Connect with us

Kolumnen

Eine schallende Ohrfeige

Spread the love

Ob Rente, Mindestlohn oder Flüchtlingsfrage – scheinbar gekonnt ignorieren deutsche Politiker viele heikle Themen. Wie wenig sie dabei über die Lebenswirklichkeit der Menschen wissen, offenbart sich immer wieder aufs Neue. (Foto: dpa)

Published

on

Auf dem Campingplatz «Paulfeld» in Catterfeld bei Friedrichroda genießt der Rentner Roland Faust aus Baden-Württemberg am 01.07.2011 den sonnigen Nachmittag vor seinem Wohnwagen.
Spread the love

Eigentlich ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Rentner auf die Barrikaden gehen. Denn die Zahl derer, die von ihrer Rente nicht mehr leben können, nimmt zu. Bereits heute gehen rund eine dreiviertel Million Rentner einer Arbeit nach, ermittelte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Ein Großteil von ihnen ist auf den Zuverdienst angewiesen. Doch nur in ganz seltenen Fällen findet ein Ruheständler eine Tätigkeit in seinem früheren Beruf, und noch seltener wird er entsprechend bezahlt.

In Zukunft wird die Zahl der arbeitenden Rentner steil ansteigen. Der Grund sind stagnierende oder gar sinkende Nettoeinkommen, die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse wie Minijobs, Teilzeitarbeit, Leiharbeit oder Tätigkeiten etwa im Friseurhandwerk oder im Sicherheitsgewerbe, die mit Stundenlöhnen weit unter dem Existenzminimum vergütet werden. In allen Fällen zahlen die Arbeitnehmer so wenig in die Rentenkasse ein, dass ihnen im Alter nur eine Minirente unterhalb des Sozialhilfeniveaus zusteht. Obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben, werden sie im Alter arm sein.

All diesen Menschen wäre sehr geholfen, wenn sie im Alter wenigstens zu staatlich garantierten Mindestlöhnen arbeiten könnten. Doch diese Möglichkeit will ihnen der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer verbauen. Am Wochenende sagte er in einem Interview, Rentner bräuchten ebenso wenig einen Mindestlohn wie Praktikanten.

Vermutlich hat Seehofer gar nicht gemerkt, wie viel Hochmut und Verachtung aus seinen Worten spricht wenn er im selben Atemzug sagt: „Wir müssen Gesetze machen, die auf die Lebenswirklichkeit passen.“

Die Folgen der Leiharbeit

Solche Sätze sind eine schallende Ohrfeige für alle Arbeitnehmer und Rentner, die jetzt unter den Folgen all der Gesetze leiden, die dreimal kluge Politiker wie Seehofer in den vergangenen Jahrzehnten gemacht haben. Diese Politiker haben die Leiharbeit massiv ausgeweitet und damit einen riesigen Niedriglohnsektor geschaffen, der riesige Löcher in die Rentenkasse reißt. Sie haben die Rechte der Arbeitnehmer radikal eingeschränkt und sie zu Beschäftigungsverhältnissen gezwungen, mit denen sie weder sich selbst, geschweige denn eine Familie ernähren können. Sie haben der Verlagerung von Millionen Arbeitsplätzen nach Osteuropa und China den Weg bereitet. Sie haben den Menschen die Riester- und die Rürup-Rente aufgezwungen, von denen allein die Finanzindustrie profitiert. Und dann kommt ein Seehofer daher und sagt: „Wir müssen Gesetze machen, die auf die Lebenswirklichkeit passen.“

Wie wenig Politiker von der Lebenswirklichkeit wissen, war ebenfalls am Wochenende in Hamburg zu sehen, wo Tausende gegen die Flüchtlingspolitik und die Gentrifizierung von Stadtvierteln demonstrierten. Auch hier fürchten Menschen um ihr Zuhause. Sie wissen nicht, wie und wo sie künftig in dieser Stadt leben werden. Die Flüchtlinge haben noch ganz andere Sorgen. Seit Wochen habe sich das Klima in der Stadt aufgeheizt, sagte eine FDP-Politikerin und meinte damit die wachsende Wut der Demonstranten. Ja, liebe Politiker, woher kommt denn diese Wut?

Eine Steilvorlage nach der anderen

Sie erwächst aus der Frustration darüber, dass die Politik so wenig von der Lebenswirklichkeit der Menschen weiß. Die Politik ignoriert die Sorgen der Menschen, die in der Nacht zum Sonntag wegen Einsturzgefahr aus den so genannten Esso-Häusern evakuiert wurden. Sie hat nicht auf den Eigentümer des seit zwanzig Jahren besetzten Kulturzentrums „Rote Flora“ eingewirkt, damit er die Räumung verschiebt, statt sie punktgenau zum Zeitpunkt einer lange von der linken Szene angekündigten Demonstration anzusetzen. Mit dieser Aktion hat der Eigentümer einen Großteil des Dynamits gelegt, das am Wochenende von Gewalttätern der Linksextremisten gezündet wurde.

Und was sollen die Menschen denn denken, wenn die Politiker, die heute lauthals die linksextreme Gewalt beklagen, übermorgen dieselbe linksextreme autonome Antifa-Szene im Kampf gegen Rechts finanziell und ideell unterstützen? Dieser Irrsinn ist deutsche Lebenswirklichkeit. Altersarmut und Hungerlöhne sind Teil unserer Lebenswirklichkeit.

Aber wer das bis heute nicht begriffen hat, wird es vermutlich auch dann nicht verstehen, wenn selbst die Rentner auf die Barrikaden gehen.