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Kolumnen

Deutschland braucht keinen Doppelpass, sondern einen Mentalitätswechsel

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Die Optionspflicht soll bald Geschichte sein, der Doppelpass kommen. Doch werden damit die Probleme der Menschen gelöst? Wann werden „Einheimische“ und „Zuwanderer“ in ihrem Alltag einen Doppelpass spielen?

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Die meisten Menschen verbinden mit dem Begriff des Doppelpasses eine Angriffsaktion im Fußball, die – wenn sie geschickt durchgeführt wird – zu einem Tor führt. Übertragen auf den Kompromiss der Großen Koalition, die jungen Deutsch-Türken nicht länger vor die Alternative Türkei oder Deutschland zu stellen, ihnen zwei Pässe zu gestatten, müsste das angestrebte Ziel lauten, Menschen unterschiedlicher Herkunft dazu zu ermuntern, ein blühendes Gemeinwesen gemeinsam zu gestalten. Wird der „Doppelpass“ einen Beitrag dazu leisten?

Den Versuch ist er wert, denn es muss weiterhin alles dafür getan werden, die unendliche deutsch-türkische Migrationsgeschichte von Kopf auf die Füße zu stellen, ihr Strukturen, Logik und Vorgaben für die Zukunft zu erteilen. So wie die Dinge momentan liegen, würde es viele junge Menschen überfordern, sich für das eine oder andere Land zu entscheiden. Denn der Entschluss der Eltern und Großeltern, nach Deutschland zu gehen und dort zu arbeiten, war in seltenen Fällen ein Votum für dieses Land und erst recht nicht eine Lebensentscheidung. Sie war und ist rückholbar.

Denn zwischen Anatolien und Deutschland liegt nicht wie bei den Auswanderungsschicksalen von Millionen von Europäern im 19. Jahrhundert der Atlantik, der Weg ohne Wiederkehr, sondern in den Anfängen eine mühevolle, zweitägige Autotour über zumeist schlechte Straßen. Findige Reiseveranstalter, in den Anfängen zumeist Auslandstürken, machten schon bald aus dieser Strapaze den für jedermann zu bezahlenden 2-3 stündigen Charterflug in die Heimat. Somit ist die Türkei fern und nah zugleich, politisch zurzeit sehr fern. Aber auch hier gilt: Entscheidungen können hinausgeschoben werden.

Bürokratisches Monstrum

Spätestens jetzt dürfte Ihnen klar geworden sein, dass ich den Doppelpass mit einer gewissen Skepsis sehe, weil ich meine Landsleute kenne. Sie haben aller Wahrscheinlichkeit nach ein neues bürokratisches Monstrum geschaffen. Denn um den Koalitionskompromiss umzusetzen, den Kreis der Berechtigten zu überprüfen, wird es eines enormen Aufwandes bedürfen. Wesentlich überzeugender wäre für mich die Entscheidung gewesen, jedes in diesem Land geborene Kind mit einem deutschen Pass auszustatten so wie es die Amerikaner tun. Wenn jemand einen zweiten haben will, finde ich, ist es seine Sache.

Was ich befürchte ist Folgendes: der gutgemeinte Doppelpass wird am Ende zu einem stärkeren Nebeneinander von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft führen, weil sich dieses Land viel zu sehr darauf verlässt, dass administrative Entscheidungen die Dinge zwischen den Menschen, also den Zusammenhalt der Gesellschaftschon richten werden. Die Wirklichkeit sieht anders aus. In meinem Bekannten- und Freundeskreis hat kaum jemand Kontakt zu Deutschtürken. Die „Reibungszonen“ liegen in Stadtgebieten, wo der Hinzuziehende oft als Bedrohung wahrgenommen wird, sie liegen in Schulen, aus denen deutsche Eltern ihre Kinder abmelden oder erst gar nicht anmelden, wenn der Migrantenanteil bestimmte Marken überspringt. Sie liegen in Ämtern, in denen überforderte Beamte des mittleren und gehobenen Dienstes, ohne internationale Erfahrung, ohne Gespür für andere Mentalitäten, verunsicherte Menschen anhand der Papierform in Kategorien einteilen, ihnen Gelder bewilligen oder verwehren. Mensch kann man hier nur selten sein. Es regiert die Vorschrift. Die deutsche Amtsstube ist der bleibende Eindruck, den der Neuankömmling von diesem Land gewinnt.

Papiere helfen nur in den Behörden weiter, nicht im Alltag

Was Deutschland benötigt, sind weniger gesetzliche Regelungen als die Bereitschaft zu einem Mentalitätswechsel. Denn ein Land kann nicht in den alten Strukturen verharren, wenn die Hälfte der neugeborenen Kinder in den Großstädten aus Familien stammt, die ein Einwanderschicksal haben. Eine Schule kann nicht so tun, als habe sich bei der Stoffvermittlung nichts geändert, wenn kaum noch ein Kind der „Mehrheitsgesellschaft“ im Klassenraum sitzt. Deutschland ist binnen zwei Jahrzehnten ein Einwanderungsland geworden. Dokumente, Zeugnisse, Papiere über meinen Lebensweg habe ich in ausreichender Zahl in meinen Schubladen. Sie helfen mir bei der Bewältigung des Alltags nicht weiter. Was mich freut, was dem Tag seinen Sinn gibt, ist die kleine Geste im Alltag, ein freundliches Wort zwischen Menschen, die sich nicht kennen, ein spontaner Akt des Helfens, das ungläubige Lächeln der jungen deutschtürkischen Mutter mit Kopftuch, wenn ich ihr dabei behilflich bin, den Kinderwagen vom Bus auf den Bürgersteig zu befördern – wenn Sie so wollen – mein Doppelpass.