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Kolumnen

Deutschland – ein Land auf dem zweiten Blick

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Es ist nicht schwierig, in Menschen aus der deutsch-türkischen Community Begeisterung und Dankbarkeit zu erwecken. Manchmal reicht es, einfach nur objektiv und unvoreingenommen über sie und ihre Arbeit für die Gemeinschaft zu sprechen.

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Deutschland - ein Land auf dem zweiten Blick
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Das Wichtigste für einen Autor ist der Moment, wenn er aus der Einsamkeit des Schreibens vor seine Leser treten kann. Ich hatte dieses Erlebnis schon einige Male, gipfelnd in der Signierstunde, die auf eine Lesung oder Diskussion folgt. Aber alles sollte in den Schatten gestellt werden, als ich mich vor ein paar Tagen auf den Weg zu den Lesern und Beziehern des Buches „Wir sind Teil dieser Gesellschaft“ machte.

Es war für mich eine Art von zweiter Bildungsreise und eine Momentaufnahme der Bundesrepublik, bei der ich mir eine größere Beteiligung seitens der Mehrheitsgesellschaft gewünscht hätte. Ich hielt auch vergeblich nach Kritikern der Gülen-Bewegung Ausschau, die damit die Chance verpassten, mit mir und den Anwesenden Argumente auszutauschen, vielleicht sogar etwas dazuzulernen und den eigenen Standpunkt zu überdenken. In einer Buchhandlung in Hannover meldete sich ein Zuhörer zu Worte, der – nach dem Akzent zu urteilen – ein Schweizer Staatsbürger war. Er stellte mir eine interessante Frage, sagte aber zuvor, dass er sich zufällig im Laden befunden habe und geblieben sei, weil er den Ablauf der Veranstaltung spannend gefunden hätte.

Wiederholt bedankten sich junge Deutsch-Türken, aber auch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft bei mir dafür, dass ich das Buch geschrieben habe. Ich war sehr gerührt, als sich eine junge Frau bei meiner ersten Lesung in Essen erhob und mir unter dem Beifall des Saales sagte: „Sie haben uns eine Stimme gegeben.“ Bemerkenswert oft wurden meine Ausführungen im Westen und Norden der Republik von spontanem Applaus unterbrochen. Eine derartige Wärme und Empathie ist mir in Deutschland bei öffentlichen Auftritten bisher noch nicht entgegengebracht worden.

Die Veranstalter lasen mir jedem Wunsch von den Augen ab, holten mich bei der Ankunft am Gleis des Bahnhofs ab und schnappten sich als erstes meinen Koffer. Danach folgten in der Regel ein Essen und ein umfassender Gedankenaustausch. Eine derartige Gastfreundschaft habe ich zuletzt als junger Mann im elterlichen Haus erlebt, denn Gastfreundschaft wurde in unserer aus Ostpreußen stammenden Flüchtlingsfamilie groß geschrieben. Auch wir hatten übrigens ähnliche Netzwerke wie die Deutsch-Türken.

Wie in Deutschland verlorene Werte in den Gastarbeitern weiterlebten

Und ich habe einiges über die deutsch-türkischen Mitbürger und Freunde hinzugelernt. Sie verkörpern allmählich untergehende deutsche Sekundärtugenden wie hohen Einsatz bei der Arbeit, Verlässlichkeit, Loyalität und Hilfsbereitschaft. Kann es sein, dass die erste Generation der Gastarbeiter, die vor 50 Jahren zu uns kam, obwohl wenig gebildet, ein Deutschlandbild in sich trug, das genau diese Werte umfasste? Wenn ja, müssen diese Menschen schwere Enttäuschungen erlebt haben, die ihre Enkel nun artikulieren. Mir wird während der Lesereise klar, dass es im deutschen Alltag viele Verletzungen für die zur Integration Bereiten gibt. „Ihr Buch gibt uns Kraft, durchzuhalten, weiterzumachen“, sagen mehrere der Anwesenden. Dass es viele Verletzungen gibt, wird beim Frage- und Antwortspiel nach den Lesungen sehr, sehr deutlich. „Was soll ich machen?“ fragt mich eine junge Lehramtsbewerberin, die von den Zurückweisungen und dem Desinteresse an Kontakten seitens der Kommilitonen in ihrer Universität berichtet. „Halten Sie bitte durch“, entgegne ich ihr, „Deutschland ist am Ende verlässlich, es ist ein Land auf den zweiten Blick.“

Die Säle sind voll, mitunter füllen sie sich erst in letzter Minute, was mich nicht beunruhigt, denn ich weiß, dass die Deutsch-Türken kommen werden. Dutzende von Menschen stehen nach den Lesungen an, um sich das zuvor käuflich erworbene Buch signieren zu lassen. Ich sehe in strahlende Gesichter. Mancher traut sich, nochmals zu mir zurückzukehren. „Können Sie bitte eine Widmung für meinen Bruder hineinschreiben“? In Hannover finden fast 500 Bücher einen Abnehmer. Ich signiere bis wenige Minuten vor Abfahrt meines Zuges.

Meine beiden Begleiter, die mich am Morgen am Hauptbahnhof in Empfang genommen haben, sind erneut zur Stelle, einer bleibt am Wagen zurück, der andere schleppt meinen Koffer bis zum Gleis, ein Gepäckstück älterer Bauart, das keine Rollen hat. Es ist Freitagabend. „Für Sie an der Zeit, zur Familie zurückzukehren“, sage ich ihm. Mein Begleiter lächelt. Wir umarmen uns. Ich habe in dieser Woche eine Reise zu Freunden unternommen.

Hinweis: Jochen Thies (Foto) war auf Einladung von deutsch-türkischen Dialogvereinen in Essen, Wuppertal, Köln, Hamburg und Hannover. In dieser Woche setzt er seine Reise in Süddeutschland fort. (Quellenangabe zum Foto: obs/Adam Berry/Burson-Marsteller/Forum für Interkulturellen Dialog)