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Politik

Nicht alle neugeborenen Deutschen sind gleich

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Durch den Optionszwang erreicht man wenig, außer, die Betroffenen zu entfremden. Eine Politik, die diese Menschen so respektiert, wie sie sind, würde Loyalität erwecken – Einstaatigkeit, wie vom Staat gefordert, hingegen nicht. (Foto: dpa)

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Kinder putzen ihre Zähne in einer Schule. dpa
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GASTBEITRAG In Deutschland werden nicht nur Erwachsene, sondern auch Neugeborene effektiv diskriminiert. Nicht jedes Kind, das in Deutschland geboren wird, ist gleichwertig und wird automatisch als deutsch anerkannt. Auch Neugeborene müssen Bedingungen erfüllen, bevor Deutschland sie als seine eigenen akzeptieren kann. Deshalb erwerben Kinder von Ausländern bei Geburt in Deutschland nicht, wie in den USA, immer, sondern „nur unter bestimmten Voraussetzungen die deutsche Staatsangehörigkeit.“  Und für ein Land mit einer Vergangenheit wie Deutschland sind diese Anforderungen außerordentlich hoch.

Damit ist das „Problem“ der Staatsangehörigkeit für die Kinder, die das „Glück“ gehabt haben, die Bedingungen des Bundesministerium des Innern erfüllen zu können, aber noch nicht aus der Welt geschafft. Sie werden (weiter) gemobbt. Zwischen 18 und 23 Jahren müssen viele von ihnen eine ihre Identitäten aufgeben: Entweder die, die sie von ihren Eltern mitbekommen haben, also ihre ethnischen Wurzeln; oder die des Landes, in dem sie geboren wurden und aufgewachsen waren. Beides ist in Deutschland anscheinend für manche unvereinbar, obwohl Mehrstaatigkeit eigentlich erlaubt ist.

Mehrfache Staatsangehörigkeit ja, aber nicht für alle*

Die Diskussion über eine mehrfache Staatsangehörigkeit findet so statt, als wäre diese Möglichkeit im deutschen Rechtsbestand gar nicht erst vorgesehen – und das, obwohl es viele Menschen in Deutschland gibt, die neben ihrer deutschen auch eine andere Staatsangehörigkeit haben. Seit 2006 hat ungefähr die Hälfte aller Einbürgerungen in Deutschland unter Beibehaltung der früheren Staatsangehörigkeit stattgefunden. Ein Beweis dafür, dass aus unterschiedlichen Gründen in der heutigen Zeit Mehrstaatigkeit einfach nicht mehr zu vermeiden ist. Menschen heute sind zu divers für eine ausgrenzende Politik mit einer limitierten Perspektive wie jener des derzeitigen deutschen Staatsangehörigkeitsrechts und „Optionspflicht“ in Deutschland.

Ein Szenario: Kind eines türkischen Paares vs. Kind eines EU-Paares

Wie schon erwähnt ist Mehrstaatigkeit ist in Deutschland nicht immer ein „Problem“. Laut Gesetz gibt es z.B.  sogar „besondere Erleichterungen bei der Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeit […] im Verhältnis zu den meisten EU-Ländern“.

Nun spielen wir mal folgendes Szenario durch: Ein Kind, dessen Eltern hier geboren und aufgewachsen sind, jahrelang gearbeitet und in das deutsche Sozialsystem eingezahlt haben, aber die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, hat in Deutschland Optionspflicht (man beachte hier den Widerspruch in dem Wort Optionspflicht, der hier sehr gut zu Geltung kommt) ohne Aussicht auf Mehrstaatigkeit. Ein Kind, dessen Eltern aber erst seit ein paar Jahren hier leben und die Staatsangehörigkeit der „meisten EU-Länder“, von dem hier die Rede ist, haben, könnte beide Staatsangehörigkeiten behalten. Auch dieses Kind hat zwar „Optionspflicht“, kann aber einen Antrag auf Beibehaltung stellen (man beachte hier wiederum die Verwendung des Begriffes „Optionspflicht“, die man angeblich hat, aber umgehen kann).

Warum eigentlich diese Politik der Diskriminierung?

Diskriminiert man, weil Diskriminierung einfach zum deutschen Way of Life gehört? Und villeicht weil im Falle der „meisten EU-Länder“ die Mehrstaatigkeit aus Sicht des „gesunden Volksempfindens“, zu dessen Anwalt sich die Politik hier macht, „kulturell“ keine Bedrohung für Deutschland darstellt – anders im Falle von Mitbürgern z.B. mit türkischen Wurzeln, welche diese ausgrenzende Politik überproportional trifft?

Natürlich ist es keine gute Idee, offen eine Politik zu betreiben, die Staatangehörige von „kulturell bedrohlichen Kulturen“ wie „islamischen Länder“ direkt angreift. Deshalb ist diese indirekte, aber nicht sehr unterschwellige, diskriminierende Staatsangehörigkeitspolitik in Deutschland eine sehr gute Alternative. Sie trifft überproportional die, die es am härtesten treffen soll. Inwiefern diese Politik in ihren Auswirkungen auch rassistische Züge hat, könnte man u.a. anhand von qualitativen Studien belegen. Studien, die weder beim BAMF noch bei anderen Behörden Interesse erwecken dürften. Denn die deutschen Behörden konzentrieren sich lieber auf Studien, die die Unterlegenheit der Minoritäten „belegen“.

Im Wege einer bizarren Kontinuität der deutschen Vergangenheit müssen bestimmte Traditionen von Ausgrenzung und Diskriminierung anscheinend immer noch aufrechterhalten werden. Die gegenwärtige deutsche Staatsangehörigkeitspolitik mit ihrer inkonsistenten „Optionspflicht“ leistet einen wichtigen Beitrag zu dieser Tradition!

Gefährliche ausgrenzende Staatsangehörigkeitspolitik

Laut einer noch nicht ganz abgeschlossenen Studie des BAMF wird folgende Bilanz gezogen: „Bei der Entscheidung der Optionspflichtigen zeigt sich eine klare Tendenz für die deutsche Staatsangehörigkeit. Weniger als zwei Prozent entscheiden sich für die ausländische und gegen die deutsche Staatsangehörigkeit.“ Quantitativ mag dies eine richtige Aussage sein, aber qualitativ muss dies nicht mehr bedeuten, als dass viele Menschen höchstwahrscheinlich eine pragmatische Entscheidung getroffen haben.

Der Bedarf an Mehrstaatlichkeit in Anbetracht von Diversität und Freizügigkeit ist eine Realität. Eine Entwicklung Richtung Mehrstaatlichkeit aufhalten zu wollen, ist kontraproduktiv und unrealistisch. Verantwortliche sollten sich genau überlegen, welche Botschaft sie mit der jetzigen Politik senden und sich folgende Fragen stellen: Wie fühlen sich Menschen, die eine Entscheidung getroffen haben, nachdem sie diskriminiert und in die Ecke getrieben wurden? Wie viel Loyalität darf man von Menschen erwarten, die man dazu gezwungen hat, sich für eine ihrer Identitäten zu entscheiden und die andere aufzugeben, während andere ihre Identitäten frei ausleben dürfen?

Loyalität kann man nicht kaufen oder erzwingen

Politiker in Deutschland sollten sich genau überlegen, wem sie mit dieser ausgrenzenden Staatsangehörigkeitspolitik schaden. Denn es wird vielleicht mal eine Zeit kommen, wo Deutschland nicht nur „Papierbürger“ braucht. Gegeben der Art und Weise, wie mit Minoritäten in Deutschland umgegangen wird, sollte man Loyalität am besten nicht automatisch voraussetzen. Denn verdient hat man sich eine solche mit dieser Art von Politik sicher nicht. Zudem kann man Loyalität weder kaufen noch erzwingen, genauso wenig, wie man Respekt und Liebe erzwingen kann. Menschen haben bekanntlich auch ein Gedächtnis und merken sich, wie fair oder unfair sie behandelt werden.

Durch den Optionszwang, der heute viele Mitbürger betrifft, erreicht man wenig, außer, die Betroffenen zu entfremden. Die Realität vieler Menschen, die von diesem Zwang betroffen sind, ist nun mal, dass sie mehrere Identitäten haben. Eine Politik, die diese Menschen so akzeptiert und respektiert, wie sie sind, würde Loyalität erwecken! Mehrstaatigkeit führt nicht zum Verlust von Loyalität und Respekt, sondern das Gegenteil! Das heutige Staatsangehörigkeitsrecht hingegen wird bei vielen nichts als Ressentiment erwecken.

Es soll zum Schluss noch erwähnt werden, dass mit Blick auf das real existierende Ausmaß von Diskriminierung und Rassismus in Deutschland die meisten Menschen mit diversen Identitäten faktisch den Preis für mehr als einen Pass bereits immer und immer wieder, sogar mit Zinsen „bezahlt“ haben. Sie erwarten nicht viel, wenn sie nun das Recht, für das sie „bezahlt“ haben, in Anspruch nehmen wollen.

Die Mitbürger, die sich nun benachteiligt fühlen und gegen Mehrstaatlichkeit protestieren, weil sie der dominanten Kultur angehören und/oder keine Aussicht auf eine Mehrstaatlichkeit haben, sollten sich fragen, ob denn auch sie den „Preis“ für ihre nationale/ethnische Diversität gezahlt haben. Wenn nicht, dann müssen sie sich bis auf weiteres mit ihren vielen anderen Privilegien, wie Bevorzugung bei Bewerbungen aufgrund ihrer Namen und vielem mehr, begnügen.

*Mehrfache Staatsangehörigkeit im Falle von Menschen, die ihre ausländische Staatsangehörigkeit nicht abgeben können, weil dies nicht möglich ist, werden in der Argumentation für Mehrstaatlichkeit in diesem Artikel nicht berücksichtigt, da es selbstverständlich ist, dass diese Menschen das Recht haben sollten, sich in Deutschland einbürgern zu lassen.

Autoreninfo: Die Verfasserin ist heute selbst doppelte Staatsangehörige. Bei ihrer Einbürgerung in Deutschland in den 90er-Jahren musste sie ihre türkische Staatsangehörigkeit aufgeben, weil laut offiziellen Angaben Doppel- oder Mehrstaatigkeit vermieden werden sollten.