Gesellschaft
„Eltern sollten ihren Kindern vermitteln, dass Fremdes auch eine Bereicherung für sie sein kann“
Kinder aus türkischen Einwandererfamilien haben meist ein geringeres Selbstwertgefühl als ihre Altersgenossen in der Türkei. Religion, Wissen und Interesse mit Blick auf den anderen und Teilhabe schaffen in dieser Situation Resilienz. (Foto: reuters)
Fragt man Besucher aus der Türkei, was ihnen bei den in Deutschland lebenden türkischstämmigen Menschen auffällt, so weisen nicht wenige darauf hin, dass Kinder ruhiger seien als die Kinder in der Türkei. Pädagogen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, bestätigen auch, dass sie sich weniger zutrauen. Es ist ja mittlerweile kein Geheimnis, dass türkischstämmige Kindern in den Schulen mit Problemen zu kämpfen haben. So besuchen überdurchschnittlich viele davon die Hauptschulen, die Zahl der Gymnasiasten steht in keinem Verhältnis zu ihrer Gruppenstärke in der Gesamtgesellschaft.
Es stellt sich die Frage: Warum ist das so? Warum trauen sie sich weniger zu? Was hat das mit ihnen selbst, mit ihren Familien, ihrem sozialen Umfeld zu tun? Inwiefern trägt die Gesamtgesellschaft an diesem Phänomen Mitverantwortung? Über diese Fragen haben wir mit Dr. Tuba Işık gesprochen. Dr. Işık ist an der Universität in Paderborn im Bereich Islamische Religionspädagogik beschäftigt.
Frau Işık, Sie haben in Ihrer Magisterarbeit das Selbstwertgefühl türkischstämmige Kinder in Berlin mit jenem der Kinder in Bursa in der Türkei verglichen. Warum?
Meine Hypothese war, dass das Selbstwertgefühl von Kindern in der Türkei stärker ist als das Selbstwertgefühl von türkischstämmigen Kindern in Deutschland. Anhand meiner Ergebnisse konnte die Hypothese verifiziert werden.
Warum ist das so? Was sind die Ursachen?
Die Summe aller selbstbezogenen Einschätzungen, aller Rückmeldungen, die ich bekomme, wird als Selbstbild bezeichnet. Dieses Selbstbild konstituiert das Selbstwertgefühl. Dieses ist etwas sehr Dynamisches. Es gibt zwei Aspekte, die auf das Ich des Kindes einwirken: Zum einen die Person-Umwelt-Beziehung; d.h. das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern, der Familie insgesamt; sogar die Reihenfolge unter Geschwistern spielt eine Rolle sowie die Schule und welche Feedbacks das Kind von Mitschülern und Lehrern bekommt. Der andere Aspekt ist die eigene Sichtweise auf die eigene Person. Wie sehe ich mich eigentlich? Die Wahrnehmungen seiner Selbst können zu den unterschiedlichen Ausprägungen des eigenen Selbstwertgefühls führen. Wenn das Kind aus einer sozial schwachen Familien kommt, wenn es von den Klassenkameraden ausgegrenzt wird und der Lehrer von ihm sowieso nicht viel hält, weil es aus einer Migrantenfamilie kommt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Kind ein schwaches Selbstwertgefühl hat.
Abschottung in eigener Kultur könnte Kindern schaden
Warum ist das Selbstwertgefühl so wichtig?
Weil das Selbstwertgefühl der Ausgangspunkt für vieles ist. Ist man stark, so traut man sich viel zu, stellt sich Herausforderungen leichter, erzielt eher Erfolge.
Was sind noch mal im Einzelnen die Gründe dafür, dass bei den türkischen Kindern in Berlin das Selbstwertgefühl schwächer ist?
Dafür gibt es ein paar Faktoren: Gemäß meiner Untersuchung waren der Bildungsstand und der soziale Status der Familien entscheidende Faktoren. Insgesamt fühlten sich die Kinder in ihrer Schule und mit ihren Klassenkameraden wohl.
Welche Rolle spielt die Haltung zur Kultur, zur eigenen bzw. der der Mehrheitsgesellschaft?
In einer Kultur fest verankert zu sein, ist einerseits wichtig, da es für die Ich-Stärke stabilisierend wirken kann und andererseits kann es den eigenen Blick für das kulturell Andere auch öffnen. Das hängt jedoch damit zusammen, wie ich den kulturell Anderen sehe bzw. wahrnehme? Als Bedrohung, als etwas völlig Fremdes? Denn wenn ja, dann kann diese Haltung mich dazu führen, dass ich krampfhaft das Eigene zu bewahren versuche und mich im extremen Fall dann abschotte. Wenn ich solch eine Einstellung zu kulturell anderen Menschen auch meinem Kind vermittle, kann das den Umgang der eigenen Kinder mit kulturell unterschiedlichen Menschen negativ beeinflussen bzw. stören und manchmal nehmen wir unseren Kindern so die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und sich somit ein eigenes Bild zu entwickeln. Wenn Kinder nur die eigene Kultur kennen, haben sie eher Schwierigkeiten, anderen Menschen mit Offenheit und Wohlwollen zu begegnen.
Aber ich kann von meinen Eltern auch vermittelt bekommen, dass Fremdes auch eine Bereicherung für mich sein kann, eine positive Herausforderung. Dann begegne ich dem anderen auch ganz anders.
Wie hoch schätzen sie den Anteil jener Familien ein, die sagen, man müsse sich auf die eigene Kultur konzentrieren und versuchen, sich abzuschotten?
Der Anteil ist nicht mehr so hoch, wie er mal war. Wir leben ja mittlerweile in der vierten Generation. Die jüngeren Generationen sind hier geboren und nehmen das religiös und kulturell Andere nicht mehr als Gefahr oder Befremdung wahr. Die wachsen selbstverständlich in diesen zwei Kulturen auf.
Problematische Rolle des Integrationsdiskurses
Sie beenden Ihre Arbeit mit dem Satz: „Ein großer Erfolg wäre schon zu verzeichnen, wenn der Integrationsdiskurs in Deutschland einen anderen Verlauf als bisher nehmen würde.“ Daraus ist zu schließen, dass das gesellschaftliche Klima im Land, das Bild, das man von den Türken in Deutschland hat, eine Rolle spielt für das Selbstbewusstsein der Kinder.
Ja, das könnte man so sehen. Die meisten fühlen sich von der Art und Weise, wie über Integration und Migration gesprochen wird, sehr betroffen. Es gibt sehr wenige Menschen, die davon Abstand nehmen können. Viele schlagen sich mit dem Fremdbild herum, das ihnen die Mehrheitsgesellschaft oft spiegelt, anstelle an ihrem eigenen Selbstbild festzuhalten, das sich vom Fremdbild stark unterscheidet.
Was macht die kleine Minderheit aus, die sich unabhängig von der Mehrheitsgesellschaft ein starkes Selbstwertgefühl schafft? Was unterscheidet sie von anderen, die sich zu sehr von der Meinung oder der Haltung der Mehrheitsgesellschaft abhängig machen?
Das kann unterschiedliche Ursachen haben. Es gibt resiliente Kinder, Kinder, die große Ressourcen in sich abzapfen können, um katastrophale Umstände gesund und unbeschadet zu überwinden. Man hat die Quellen dieser Ressourcen seither nicht ausfindig machen können, ebenso kann man nicht eindeutig sagen, warum genau ein bestimmtes Kind so resilient ist. In anderen Fällen ist es die religiöse Überzeugung, die einem eine ganz stabile Ich-Stärke verschafft. Manchmal ist es auch ein differenzierter Umgang mit der eigenen Kultur und Religion, in der man gut beheimatet ist und folglich das kulturell sowie religiös Andere nicht mehr als fremd oder gar als Bedrohung empfindet.
Sie verwenden in Ihrer Arbeit auch den Begriff Ambiguitätstoleranz. Das klingt gut. Aber gibt es da nicht ein paar Punkte, die schwer zu vereinbaren sind, Beispiel Speisegewohnheiten, Moralvorstellungen usw.?
Ich sehe kulturelle Unterschiede grundsätzlich nicht als Konfliktpotenzial. Ich sehe das als Möglichkeit, mit dem Anderen ins Gespräch zu kommen. Die Grundlage für das Zusammenleben in Deutschland ist das Grundgesetz. Alles andere ist Aushandlungssache.
Was können Familien konkret zum Selbstwertgefühl ihrer Kinder beitragen?
Ich konzentriere mich an dieser Stelle auf den schulischen Kontext. Eltern sollten auf die Elternabende gehen, an den Schulfesten teilnehmen, sie sollten im regen Austausch mit den Lehrern stehen. Das sollten sie aus einem positiven Selbstverständnis tun. In dem Moment, an dem meine Eltern meine Schule, meine schulischen Aktivitäten ernst nehmen, bedeutet es, dass sie mich ernst nehmen. Dies trägt auch zu einem starken Selbstwertgefühl der Kinder bei.
You must be logged in to post a comment Login