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Kolumnen

Deutschland – von der Mentalität her ein nordeuropäisches Land

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Es fällt gegenwärtig schwer, sich in diesem Lande zu orientieren. Glaubhafte politische Führung findet nicht statt. Die Politiker hecheln den Ereignissen hinterher. Seit Wochen gibt es kein anderes Thema als die Flüchtlinge. Um eines sogleich klar zu machen: 800 000 Menschen in diesem Jahr Schutz und Unterschlupf zu gewähren, dem größeren Teil eine langfristige Perspektive zu bieten, sollten einem großen und wohlhabenden Staat wie der Bundesrepublik Deutschland nicht schwer fallen. Aber was kommt danach? Was passiert, wenn die Flüchtlingszahlen in den kommenden Jahren steigen, wenn das, was wir gegenwärtig erleben, nur der Beginn einer gigantischen Völkerwanderung ist?

Es ist genau dies, was den Menschen Sorgen macht, nicht nur dem häufig genannten rechten Rand, sondern auch der Mitte. Man muss nur die Leserbriefe in den großen Tageszeitungen anklicken, die sich binnen kurzer Zeit geradezu lawinenartig aufbauen, wenn es einen größeren Beitrag zu der Thematik gegeben hat. Es sind Warnzeichen, Hinweise auf eine große Unruhe, die das Land erfasst hat.

Abgestimmte europäische Reaktion nicht in Sicht

Wie alle anderen auch habe ich keine Antwort, geschweige denn ein Rezept, wie es mit den Flüchtlingen weitergehen soll. Eine abgestimmte europäische Reaktion – so scheint mir – wird es jedoch nicht geben. Zu unterschiedlich ist die Situation der einzelnen Staaten. Einige wie Großbritannien sind von der Geographie begünstigt, sie können den Zugang zum eigenen Territorium kontrollieren und notfalls sperren, andere wie Ungarn bauen Zäune oder führen wieder Grenzkontrollen ein wie Dänemark. Daher habe ich die Sorge, dass sich Deutschland übernimmt, dass es eine Last schultern will, die es überfordert.

In Wirklichkeit ist das Land auf diese Herausforderung nicht vorbereitet, weder hinsichtlich der Aufnahmeprozeduren, der Behandlung von denen, deren Asylantrag abgelehnt worden ist, noch hinsichtlich der Folgen, die sich abzeichnen. Es droht eine innergesellschaftliche Zerreißprobe. Das gegenwärtige blauäugige Verhalten nahezu der gesamten politischen Klasse der Bundesrepublik hat historische Ursachen, es hat mit der jüngeren deutschen Vergangenheit zu tun und mit der Entwicklung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik während der zurückliegenden 25 Jahre.

Deutschland tut sich schwer mit „dem Fremden“

Und es gibt noch eine unangenehme Wahrheit: mehr als andere Länder tut sich Deutschland mit „dem Fremden“, mit dem Neuankömmling schwer. Nicht wenige meiner deutschtürkischen Freunde, zuletzt mein Friseur, haben mir gesagt oder sagen mir, dass sie nicht ein zweites Mal nach Deutschland kommen würden, um hier auf Dauer zu leben. Dabei sind sie gut integriert, wirtschaftlich erfolgreich und sprechen ein hervorragendes Deutsch.

Ich will mein eigenes Land nicht bloßstellen, es nicht ungerechtfertigterweise kritisieren. Deutschland tut viel für die Bedrängten dieser Welt. Aber es ist schon so, dass es von der Mentalität ein eher nordeuropäisches Land ist. Seine Bewohner haben vom Urlaub einmal abgesehen Schwierigkeiten, die Lebensweise von Südeuropäern und von Mittelmeeranrainern überhaupt zu verstehen. Alles was geographisch dahinter liegt, wirkt noch fremder, noch exotischer.

An Frankreich und Großbritannien orientieren

Darüber hinaus ist die verspätet begonnene Integration der Einwanderer, insbesondere der Türken, nicht abgeschlossen. Sie befindet sich mittlerweile auf einem guten Wege und muss fortgesetzt werden. Die Bundesrepublik muss daher ihre Kräfte einteilen und sich auch an den Maßnahmen und Einstellungen orientieren, die die wichtigsten Nachbarländer beim Thema Flüchtlinge ergreifen. Es sind vor allem Großbritannien und Frankreich, Länder mit einer längeren Einwanderungsgeschichte und Erfahrung, als sie Deutschland besitzt. Paris und London senden hier andere Signale aus als Berlin.

Am Ende wird auch ein Umdenken in der Außen- und Sicherheitspolitik erforderlich sein. Der südliche Rand des Mittelmeeres ist nahe an das wohlhabende Europa herangerückt. Es wird nicht mehr lange möglich sein, dem Chaos in Libyen, in Syrien und anderswo nahezu tatenlos zuzusehen. Europa und damit auch Deutschland werden reagieren müssen. Es kann nicht sein, dass der Massenexodus von Menschen aus vielen Teilen der Welt zu einem unabwendbaren Schicksal, zu einer Jahrhundertaufgabe erklärt wird. Es gilt zu handeln, nicht nur zu reagieren.