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Gesellschaft

Die Buh-Rufe gegen Merkel und Erdoğans Verantwortung

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Obwohl Wohlstandsniveau und soziale Absicherung der Deutschtürken so hoch wie nie zuvor sind und die Standards in der Türkei weit überragen, fällt Erdoğans Strategie der Entfremdung mehr denn je auf fruchtbaren Boden. (Foto: reuters)

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Erdogan-Anhänger feiern ihr Idol und dessen Ankunft in Köln.
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MEINUNGSBEITRAG Vor einigen Tagen war ich zu Besuch bei einer befreundeten Familie. Kurz vor den Sommerferien ist eines der wichtigsten Gesprächsthemen der anstehende Jahresurlaub. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen europäischen Ländern berät, spricht und diskutiert man nicht selten auch über eine mögliche Reise in die Türkei.

Das war auch das Gesprächsthema bei meinem Gastgeber. Er erklärte mir, dass er es jedes Jahr kaum abwarten könne, in die Türkei zu reisen, um sich dort zu erholen. Auf meine Frage, ob er sich denn hierzulande unwohl fühle, entgegnete er mit einer Antwort, die durchaus als Zeichen eines bemerkenswerten gesellschaftlichen Phänomens interpretiert werden kann.

„Ich fühle mich in Deutschland sehr eingeengt. Auf der Arbeit sowie zu Hause fühle ich mich unwohl. Ich habe das Gefühl, dass ich weder auf der Arbeit noch zu Hause wirklich erwünscht bin. Die Deutschen sind eifersüchtig auf uns und wollen unseren Erfolg verhindern. Für unsere deutschen Nachbarn sind wir Störenfriede…“

Die zweite Generation fühlt sich immer noch fremd

Sofort habe ich bemerkt, dass mein Gastgeber innerlich sehr angespannt ist. Er gehört zur zweiten Generation der in Deutschland lebenden Türken, ist im Kleinkindesalter mit seiner Familie nach Deutschland gekommen, hat sein ganzes Leben in Baden-Württemberg verbracht. Er ist also hier aufgewachsen, zur Schule gegangen. Nach der Schule hat er eine Ausbildung gemacht und arbeitet bei einem großen deutschen Autoteilehersteller als CNC-Dreher. Er lebt in einem ruhigen und sehr gepflegten Dorf, in seinem eigenen dreistöckigen Haus. Sein Leben ist geprägt durch Ordnung, Stabilität und Geborgenheit.

Ich habe kurz überlegt und mir die Frage gestellt, ob es je möglich sein wird, dass eines Tages auch in der Türkei, aus der unsere Vorfahren nach Deutschland ausgewandert sind, ein Fabrikarbeiter ein so sicheres und wohlhabendes Leben führen wird können. Warum dann diese Unzufriedenheit und innere Anspannung?

Utopisches Bild über die Türkei

Im Gespräch stellt man schnell fest, dass die unzufriedenen Deutschtürken ein utopisches Bild von der Türkei haben. Sie erleben das Land nur in den Ferien und glauben möglicherweise, dass alles so ist, wie das Land in den Ferien auf sie wirkt. Mit vollen Taschen und zudem als Besucher aus der Fremde, von den dortigen Verwandten herzlich empfangen, kommen sie emotional erfüllt und körperlich erholt zurück in den deutschen Arbeitsalltag. Wären die Realitäten in der Türkei doch nur annähernd so, wie sie es in den Ferien erleben!

Wie viel Wert ein Land auf seine Arbeiter legt, lässt sich an den Arbeiterrechten, an der Vorsorge für Krisenfälle, an Arbeitsbedingungen und Arbeitssicherheit sowie am Arbeiterlohn messen. Als jemand, der in der Türkei geboren und aufgewachsen ist, habe ich hin und wieder die Arbeitsbedingungen des Landes beobachten dürfen und kann reines Gewissens sagen, dass die Standards in Deutschland deutlich höher sind.

Das Grubenunglück von Soma erklärt doch eigentlich alles. Wenn man sich die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen der Kumpel vor Augen hält, wird man schnell feststellen, wie viel Wertschätzung den dortigen Arbeitern zuteil wird. Wenn nun meinem unglücklichen Gastgeber der Vorschlag gemacht werden würde, nach Soma zu gehen, um dort sein Lebensglück dort zu suchen, würde er dies wohl kaum tun.

Deutschland ist seiner Verantwortung nicht nachgekommen

Selbstverständlich hat auch Deutschland gerade in der Integrationspolitik Fehler gemacht und ist seinen Verantwortungen vielfach nicht nachgekommen. Deutschland sollte die Frage, weshalb viele Deutschtürken trotz Wohlstandes und geordneter Verhältnisse unglücklich sind, ernst nehmen.

Diese negative Grundeinstellung vieler Deutschtürken ist der Nährboden, auf dem die aggressive und emotionale Sprache des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan fruchten kann. Und das immer stärker.

Erdoğan nutzt das Gefühl des „unterdrückt Werdens“ der in Westeuropa lebenden Türken schon seit Jahren sehr geschickt aus. In seinen Reden, wie zuletzt in der Köln Arena, appelliert er genau an dieses Gefühl. Zum einen kritisiert er die Integrationspolitik der europäischen Staaten, insbesondere Deutschlands. Und zum anderen lenkt er die Aufmerksamkeit geschickt auf die Türkei und die wirtschaftlichen Erfolge seiner Politik. Er zeichnet ein aufstrebendes Porträt der Türkei, was die Emotionen der „unterdrückten Deutschtürken“ hochfahren lässt.

Erdoğans Strategie zeigt Wirkung 

Was hat sich nun in Europa nach den vielen Reden Erdoğans tatsächlich geändert? Es wurde ihretwegen weder ein neues Gesetz zugunsten der Deutschtürken verabschiedet noch wurde eine politische Maßnahme eingeleitet, um die Situation der Deutschtürken zu verbessern.

Ohne Wirkung bleibt Erdoğans Strategie jedoch nicht. Sie hat bei den Euro-Türken zwei Dinge hervorgerufen: Einerseits haben sie sich von den Ländern, die ihre neue Heimat sind, abgewendet. Und das, obwohl sie dort viele teils ungenutzte Möglichkeiten und Rechte haben. Zum anderen hat sich bei ihnen ein utopisches Türkeibild verfestigt, weshalb sie sich zunehmend nach ihrem Heimatland sehnen.

Letztendlich hat Erdoğan mit der Art und Weise seiner Auftritte in Deutschland und anderen europäischen Ländern und mit der polarisierenden Rhetorik zu Entfremdung von der neuen Heimat und zur Zuwendung gegenüber der alten Heimat beigetragen. Dass dadurch dann eine Stimmung entsteht, in der Erdoğan-Fans so weit gehen, die Kanzlerin des Landes auszubuhen, in dem sie leben, sollte keinen verwundern.