Politik
„Die AKP hat sich auf einen Weg begeben, auf dem sie immer schneller laufen muss“
Im DTJ-Interview spricht Doğan Ertuğrul über seine Erwartungen an die politische Entwicklung der Türkei, die Erfolgsrezepte der AKP und das Selbstverständnis Recep Tayyip Erdoğans.
Sie haben lange Jahre als Redaktionsleiter für die regierungsnahe Tageszeitung Star gearbeitet. Sie begründeten ihren Rücktritt vor zwei Jahren mit ihrer Unzufriedenheit mit der Berichterstattung der Zeitung über die Gezi-Proteste und die Hizmet-Bewegung. Nach ihrem Rücktritt sagten Sie, die Türkei würde sich in einem Zustand des Wahnsinns befindet. Wie sieht es nun nach zwei Jahren aus?
Ertuğrul: Meine Kollegen und leitende Redakteure, mit denen ich jahrelang zusammen gearbeitet habe, sagten mir, dass der Wahnsinn, der mit den Gezi-Protesten von Mai 2013 begann und mit dem Hexenjagd auf die Hizmet-Bewegung einen Höhepunkt erreicht hat, an einem bestimmten Punkt halt machen würde. Ich hingegen lächelte und sagte, dass diese Tage noch die besseren Tage seien und der Türkei noch schlimmere bevorstünden. An meiner Meinung hat sich auch nach zwei Jahren nichts geändert: Der Zustand des Wahnsinns dauert leider immer noch an und ein Ende ist nicht abzusehen.
Sie meinen, es kommt noch schlimmer?
Ertuğrul: Ja, der Türkei stehen sehr schwierige Zeiten bevor.
Wieso?
Ertuğrul: Die AKP-Regierung hat sich auf einen Weg begeben, auf dem sie immer schneller laufen muss. Sobald sie anfängt zu gehen wird sie fallen. Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die während der Gezi-Proteste unempfindlich gegenüber dem Tod von Kindern war. Damit nicht genug, hat sie die Gesellschaft mittels dieser getöteten Kinder sogar noch weiter polarisiert. Diese Regierung wird nicht davor zurückschrecken, das Land in Blut zu ertränken, das haben wir ja schon erlebt.
Sie meinen den Terror zwischen den beiden Parlamentswahlen im vergangenen Jahr?
Ertuğrul: Ja.
Wieso sollte die Regierung verantwortlich für den Terror sein?
Ertuğrul: Natürlich trägt die gewählte Regierung die politische Verantwortung für den Terror im Land. Als in den USA Menschen bei Ausschreitungen umkamen, sagte Erdoğan in Richtung Obama: „Natürlich trägst du dafür, wenn Menschen im Land getötet werden, die Verantwortung und bist verpflichtet, darüber Rechenschaft abzulegen.“ Wenn in Ankara Bomben explodieren, trägt die Regierung die politische Verantwortung. Noch bis gestern hat sie Botschaften des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan vor Menschenmassen vortragen lassen und ihm sogar selbst applaudiert. Dann hat sie von heute auf morgen den Friedensprozess für beendet erklärt, einen Vernichtungskurs eingeschlagen und Ausgangssperren über ganze Städte verhängt. Für die Folgen dieser neuen Politik trägt die Regierung die Verantwortung, auch wenn sie keinen eigenen Anteil an Ereignissen hat – was ich aber nicht glaube.
Welchen Anteil könnte die Regierung denn haben?
Ertuğrul: Ich halte die Wahrscheinlichkeit für sehr hoch, dass der Geheimdienst, der zu einem Apparat der Regierung geworden ist, seine Finger im Spiel hat. Ein anderer Indikator dafür, dass wir uns in einem Wahnzustand befinden, ist der Zustand der Medien. Die Regierung besitzt mit den Staatsmedien und den richtigerweise als Poolmedien bezeichneten Medien, die nach ihren Anweisungen berichten, eine Medienmacht, die sämtliche oppositionellen Stimmen zum Schweigen bringt. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es den Mächtigen nicht mehr genügt, dass man sich ihnen fügt. Sie erwarten, dass man sie anbetet.
Meinen Sie Erdoğan, wenn Sie von „den Mächtigen“ sprechen?
Ertuğrul: Er steht mit seinem Namen für dieses System. Das ist auch der Grund, warum er die Menschen in seinem nächsten Umfeld so oft austauscht. Er trennt sich von langjährigen Weggefährten, die ihn als Tayyip Bey ansprechen und will mit Leuten arbeiten, die ihn „unser Kalif“ nennen.
Sieht sich Erdoğan wirkliche als Kalif?
Ertuğrul: Wenn man sich die ersten halb spaßigen Anekdoten von Menschen aus seinem Umfeld sich anhört kommt man zu dieser Schlussfolgerung. Eigentliche ist die Bezeichnung Kalif eine überholter Begriff. Der Titel, den man für Erdoğan vor allem bei Wahlkampfveranstaltungen, aber auch bei anderen Anlässen verwendet, ist „der Führer der islamischen Welt“. Weil ihm diese Bezeichnung so sehr gefällt, verwenden ihn auch die regierungsnahen Medien in der Berichterstattung und Kolumnisten möglichst oft.
Erdoğan will unbedingt ein Präsidialsystem einführen. Anfang des Jahres sorgte er für Diskussionen als er Hitler-Deutschland als Beispiel für ein funktionierendes Präsidialsystem nannte. Bewundert Erdoğan Hitler?
Ertuğrul: Aus ideologischer Sicht ist Erdoğan eine unglaubliche politische Figur mit unglaublichen Ausnahmefähigkeiten. Aber intellektuell betrachtet ist er keine große Nummer. Er ist niemand, der Hitler oder den Nationalsozialismus richtig verstehen und einordnen kann. Wir haben eine politische Figur vor uns, die aus der Tradition des politischen Islam kommt und sich nach 15 Jahren alleiniger Regierung als Führer der islamischen Welt sieht. Diese Person trägt alle Krankheiten des Islamismus in sich. Das zeigt sich auch in seiner Politik. Eines der wichtigsten Prinzipien dieser politischen Tradition ist die Judenfeindschaft. Wenn es um Holocaust geht, spielen nicht wenige von ihnen darauf an, dass die Juden selbst nicht ganz schuldlos an ihrem Unglück seien, und sagen „Ja, aber die Juden haben es ja auch mehr oder weniger verdient.“
Ist Erdoğan ein Antisemit?
Ertuğrul: Erdoğan ist ein Political Animal. Falls er es für richtig hält, Feindschaft gegen jemanden zu hegen, dann wird er der Sache vollends gerecht. Aber er würde für seinen Machterhalt mit jedem eine Koalition eingehen. Erdoğan ist eine politische Figur mit einem sehr starken Überlebensinstinkt. Er kann auch sehr pragmatisch sein. Mit jemanden, mit dem er auf Kriegsfuß steht, kann er morgen sehr enge persönliche Beziehungen aufbauen.
Die AKP wurde bei den Parlamentswahlen 2011 mit dem Versprechen von mehr Demokratie und der Einführung einer neuen zivilen Verfassung mit fast 50 Prozent der Wählerstimmen wiedergewählt. Daraufhin hat sie sich bis 2015 in eine Staatspartei verwandelt, die eine sehr strenge Sicherheitspolitik verfolgt. Sie bekämpft die Hizmet-Bewegung ganz offiziell, die sie bei den Wahlen im Jahre 2011 noch als Verbündeten sah. Sie unterdrückt die freien Medien und die Opposition. Dennoch ist sie mit fast 50 Prozent wiedergewählt worden. Warum machen Wähler diesen Wandel mit?
Ertuğrul: Die Erwartungen derjenigen, welche die Partei als Beobachter bewerten, und der verschiedenen Wählergruppen sind unterschiedlich. Die politischen Analysten, Journalisten und die Wähler, die die AKP für ihre Demokratieversprechen gewählt haben, nehmen das Parteiprogramm und die Wahlversprechen ernst und registrieren schnell, wenn sich die politischen Versprechen in der Regierungsarbeit nicht wiederfinden. Sie erkennen den Widerspruch, kritisieren die Partei und wenden sich schließlich von ihr ab. Die breite Wählerschaft, der die AKP ihre Wahlerfolge verdankt, haben jedoch andere Prioritäten.
Welche?
Ertuğrul: Der klassische Wähler macht sein Kreuz bei der AKP, weil er politische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum erwartet. Und einen starken Führer. Erdoğan ist eine starke Führungspersönlichkeit und es gelingt ihm, mit seiner charismatischen Ausstrahlung, viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme zu überdecken. Obwohl die Regierung auf vielen politischen Feldern eine Kehrtwende von 180 Grad vollzogen hat, wenden sich die Wähler nicht von ihr ab. Als Bespiel könnten hier die Kehrtwende in der Kurdenpolitik, die Haltung zur Hizmet-Bewegung sowie die Wende in der Syrien- und der Iranpolitik genannt werden. Zudem ist die AKP mit ihrer Sozial- und Gesundheitspolitik erfolgreich. Und es gibt keine ernstzunehmende politische Alternative zu ihr.
Die breiten Bevölkerungsschichten interessieren sich also nicht dafür, ob die Türkei ein Rechtsstaat ist, demokratische Grundrechte geschützt werden oder es Korruption gibt?
Ertuğrul: Ja, das ist leider die Wahrheit.
Der Journalist Doğan Ertuğrul beobachtet und beschreibt seit nunmehr 25 Jahren die türkische Innenpolitik. Bevor er vor knapp zwei Jahren angefangen hat, für die oppositionelle Tageszeitung Zaman zu schreiben, war er jahrelang Redaktionsleiter bei der regierungsnahen Tageszeitung Star.
Den ersten und den zweiten Teil des Interviews mit ihm können Sie hier und hier lesen.