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Politik

Die AKP und die Rückkehr des Tiefen Staates

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Udo Steinbach spricht im DTJ-Interview über die Entwicklung des sogenannten Tiefen Staates von einer NATO-gestützten Struktur im Kalten Krieg hin zur Verstrickung mit der heutigen Regierungspartei.

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In der modernen Türkei spielt die Diskussion über den sogenannten Tiefen Staat und seinen Einfluss auf die sichtbare Politik seit Jahrzehnten eine große Rolle. In ihren Anfangsjahren stand die AKP für seine Bekämpfung und die Zurückdrängung des Einflusses der Militärs. In den letzten Jahren mehren sich jedoch die Indizien dafür, dass die Regierungspartei die Strukturen des Tiefen Staates übernommen hat. Erst letzte Woche sorgte der Freispruch von Cemal Temizöz bei vielen Türken und Kurden für Empörung. Temizöz war als Armeeoffizier in den 90er Jahren in die Strukturen des inoffiziellen Geheimdienstes JİTEM verstrickt und soll für Massaker an kurdischen Zivilisten verantwortlich sein, wofür er dieses Jahr vor Gericht stand. Sein Freispruch löste daraufhin erneut Spekulationen über die Verstrickungen von Regierung und Tiefem Staat aus. In unserem Interview beschreibt der Nahostexperte Prof. Dr. Udo Steinbach den Tiefen Staat als jahrzehntelangen Tatbestand der türkischen Politik und die Rolle der NATO bei dessen Aufbau.

Herr Steinbach, Erdoğan ist ja als ein Politiker bekannt, dem für seine Machtmaximierung beinahe jedes Mittel recht ist. In der innertürkischen Debatte ist oft die These zu hören, dass er mit dem sogenannten „Tiefen Staat“ eine Koalition eingegangen ist. Was ist der Tiefe Staat im türkischen Kontext und welche Rolle spielt er in der Politik, dass er fast bei jeder Krise zum Gegenstand von Analysen wird?

Steinbach: Der Tiefe Staat ist über viele Jahrzehnte ein politischer Tatbestand gewesen, bis hin zum Beginn der Ergenekon-Prozesse. Da hatte man das Gefühl, dass mit ihm aufgeräumt wird.

Der Tiefe Staat ist eine Allianz von extrem nationalistischen Gruppen im türkischen Militär, in den Sicherheitskräften, in der Verwaltung, auch unter den Intellektuellen, auch einigen Journalisten. Also eine Clique, die sich zusammengetan hat, den türkischen Chauvinismus in der Innenpolitik, aber auch in der Außenpolitik durchzusetzen und an der sichtbaren Politik vorbei Dinge gestaltet. Das war ein Tatbestand. Lange Zeit dachte man, dass Herr Erdoğan damit aufräumen wird. Hinzu kam, dass er die Rolle des Militärs zurückgedrängt hat. Nun sehen wir, dass das alles nicht wirklich stattgefunden hat. Die Rolle des Militärs ist weiterhin sehr stark. Erdoğan braucht es heute stärker noch als damals im Jahr 2011. Der Tiefe Staat ist im Grunde wieder aktiviert, in der Weise, dass hier Justiz und Medien bereit sind, sich für die politischen Ziele des Präsidenten einzusetzen. Politische Ziele, die mit Demokratie und demokratischen Entscheidungen nichts zu tun haben.

Der Tiefe Staat galt aber als eine Festung der Kemalisten, die einst die ärgsten Feinde Erdoğans und der AKP waren. Wer hat sich also verändert, der „kemalistische“ Tiefe Staat oder der „islamistische“ Erdoğan?

Steinbach: Ich bin gar nicht so sicher, ob das wirklich so ist. Natürlich hat Erdoğans Politik eine islamische Färbung, aber ich habe ihn in den letzten zwei Jahren immer wieder einen „islamischen Kemalisten“ genannt und damit auf die starke Rolle des Staates in der Politik Erdoğans angespielt. Das heißt, letzten Endes geht es um politische Herrschaft. Und die Tatsache, dass er nun den Kurdenkonflikt wieder aktiviert hat, zeigt, dass der Islam als eine politische und gesellschaftliche Komponente fast überhaupt keine Rolle mehr spielt, sondern dass es hier wirklich nur um Machtpolitik im aller übelsten Sinne geht.

Es ist belegt, dass die NATO in den 50er und 60er Jahren unter dem Decknamen Gladio in ganz Europa geheime militärische Strukturen aufgebaut hat. Sehen Sie den türkischen Tiefen Staat als Teil dieser Strukturen, die dort entstanden sind oder als etwas eigenständiges, das davon unabhängig existiert?

Steinbach: Ich glaube beides, natürlich war der Tiefe Staat in Zeiten des Kalten Krieges ein Instrument, das von außen gefördert worden ist. Die türkische Politik als eine Demokratie, wenn auch eine schwache, eine immer wieder in eine Sackgasse laufende Demokratie, war der NATO nicht geheuer. Deswegen hat sie Strukturen unterstützt, die die Stabilität und Bündnisfestigkeit der Türkei permanent garantiert haben. Diese Strukturen waren unter Erdoğan zunächst einmal unter Druck geraten. Er war angetreten, um die Türkei tiefgreifend zu reformieren, den Kemalismus zurückzudrängen, die gesellschaftlichen Realitäten zu akzeptieren. Da musste er auch beginnen, den Tiefen Staat zurückzudrängen. Nur, ab einem bestimmten Punkt, ungefähr 2011, war das unpraktisch und nicht mehr vereinbar mit den politischen Zielen, die er ganz persönlich der Entwicklung der Türkei gesetzt hat.

Wenn ich Sie richtig verstehe, war der Tiefe Staat auch ein Instrument der NATO, um dort zu wirken?

Steinbach: Ja.

Haben Sie denn bei der eskalierenden Gewalt der letzten Wochen und Monate auch die Fingerabdrücke des Tiefen Staates erkennen können?

Steinbach: Wir wissen am Ende nicht genau, wer tatsächlich hinter den Anschlägen wie zum Beispiel in Ankara steht. Man kann natürlich der offiziellen Erklärung folgen und sagen, dass der „Islamische Staat“ dahinter steckt. Aber ich sehe schon, dass der Staat hier im Vorfeld und bei der Aufklärung nicht mit der Entschlossenheit agiert hat, die man von ihm erwarten würde. Welchen Anteil der Tiefe Staat daran hat, das kann ich nicht sagen. Aber meine Vermutung ist, dass es hier Strukturen gibt, die dahingehend wirken, bestimmte ungeliebte gesellschaftliche und politische Gruppen nicht zu schützen, vielleicht sogar der Gewalt zu exponieren. Das scheint mir nicht unwahrscheinlich.