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Kolumnen

Die deutsch-türkische Zufallsbeziehung

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Zugegeben, wir leben in einer Zufallsbeziehung. Gewiss, da gibt es eine Geschichte deutsch-türkischer militärischer Zusammenarbeit, vor 100 Jahren auch „Waffenbrüderschaft“ genannt, aber davon wissen die Deutschen nur wenig, und die Deutschtürken haben gemerkt, das man besser an diese Zeiten nicht erinnert. Wenig bekannt ist auch, dass die Türkei nach 1933 ein Zufluchtsort für vom NS-Regime bedrängte Persönlichkeiten war, unter ihnen der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter.

Der Zufall hat sich im Laufe der 50 Jahre, in denen es eine Einwanderung nach Deutschland aus der Türkei gibt, strukturiert. Die Kinder der Gastarbeiter haben gelernt, ihre Vorstellungen und Wünsche zu artikulieren, das Schweigen der Väter zu durchbrechen, und die Enkel aus der dritten Generation, die sich in bemerkenswerten Zahlen von den Lehren Fethullah Gülens angesprochen fühlen, haben den Weg an die Spitze der deutschen Arbeitsgesellschaft geschafft, oder anders formuliert, der Wissens und Ausbildungsvorsprung der vergleichbaren Gruppe der Mehrheitsgesellschaft ist aufgeholt.

Die Folgen der Akademisierung von Deutschtürken

Davon wissen die Deutschen nur wenig. Sie haben sich im „Jetzt“ eingerichtet, aber in der globalisierten Gesellschaft gibt es dieses „Jetzt“ nicht. Deutschland verändert sich, und das Tempo der Veränderung wird sich dramatisch erhöhen, in wenigen Jahren für jedermann sichtbar. Denn eine der Folgen der einsetzenden Akademisierung der Deutschtürken wird sein, dass sie schon in wenigen Jahren Chefs und Vorgesetzte von Deutschen sein werden, nicht nur am Hochofen, wo es die Tüchtigsten von ihnen schon in der ersten Generation geschafft haben, nicht nur in einer Supermarktkette, wo ein Deutschtürke Chef von 100 Mitarbeitern ist, sondern sehr viel sichtbarer: im öffentlichen Dienst, in der städtischen Verwaltung, bei der Polizei, beim Militär, in einem Ministerium. Die exotische Phase – hier eine erste deutsch-türkische Staatssekretärin, dort eine Ministerin, in einer großen Partei am Ende eine Generalsekretärin – geht also zu Ende. Der Alltag beginnt – in einer Einwanderungsgesellschaft, die sich verdutzt die Augen reiben wird, weil sie sich nicht klarmacht, was kommt. Auch die Politik weiß es nicht, jedenfalls fehlt ihr bislang die Phantasie.

Die deutsche Gesellschaft steht vor einem sozialen Experiment

Wie die vom Abstieg bedrohte deutsche Mittelschicht und untere Mittelschicht darauf reagieren werden, wissen wir nicht. Viele dieser Menschen – man mache sich da nichts vor – sind gegen Einwanderung. Viele glauben, dass Deutschland es mit der DM und bewährten Bordmitteln allein schaffen kann, aber das ist eine Illusion. Wir sind längst auf dem Weg zu einer Einwanderungsgesellschaft, wie sie die USA darstellen. Aber wir sind in Europa. In den Köpfen herrscht nicht die Freiheit, die jenseits des Atlantiks herrscht. So gesehen, steht die deutsche Gesellschaft vor einem großen sozialen Experiment, für das Erzählungen, positive Geschichten vorbereitet werden müssen. Denn die Einwanderer sind Teil dieser Gesellschaft und werden es bleiben. Für die Art und Weise, wie dieses Land funktioniert, sind sie schon heute unentbehrlich. Denn die demographische Entwicklung in Deutschland zeigt, dass die Deutschen nicht in der Lage sind, die Lücken zu füllen, die durch das Singledasein in den großen Städten, die enorme Zahl an Scheidungen, die Kleinfamilien entstehen.

Wer sich anstrengt, schafft es!

Und die Deutschtürken, die Einwanderer insgesamt? Sie kommen in eine Gesellschaft hinein, die nicht gerade vor Freude brummt, wenn der Unbekannte an die Tür klopft, die aber insgesamt eine liberale, faire ist, „ein Land auf den zweiten Blick“, wie ich es gern formuliere. Wer sich in dieser Gesellschaft anstrengt, schafft es, wird in aller Regel nicht den amerikanischen Traum vom Tellerwäsche zum Millionär ganz zu Ende träumen können, aber am Ende eine ordentliche Strecke Weges vorankommen. Bis die Deutschen mit dem neuen Nachbarn „warm“ werden, kann es eine Zeitlang dauern, aber es wird dazu kommen. Viel besser als mit den Türken sind die Deutschen übrigens nach dem Zweiten Weltkrieg auch nicht mit ihren Landsleuten, den Flüchtlingen aus dem Osten, umgesprungen – ein schwacher Trost, aber ein Stück Wahrheit über dieses Land, das besonders heiter ist, wenn jeden Tag Fußball gespielt wird, also wenn eine Europa- oder wie jetzt – eine Weltmeisterschaft gibt.