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Kolumnen

Die doppelte Chance

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Es ist gut, dass die Fußball-Europameisterschaft beginnt, gut für den in Depression befindlichen Gastgeber, gut für Deutschland und gut für die Türkei. Vieles läuft zur Zeit schief im Erdoğan-Land, aber auch Manches in der Bundesrepublik. Wie zu befürchten war, hat die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages die Debatten nicht beendet, sondern angefeuert. Nur der Fussball scheint zur Zeit in der Lage, für andere Themen zu sorgen. Denn im Grunde genommen kennt Deutschland seit September letzten Jahres nur zwei: die Flüchtlingsproblematik und die Beziehung zum „Schlüsselland“ Türkei, wie es die Kanzlerin formuliert hat. Nach dem Schlüssel wird vor allem in Berlin Tag für Tag gesucht. Allem Anschein nach ist er vor der kleinasiatischen Küste im Meer versunken, die Chancen, ihn zu finden, sind immer noch da, aber sie sind gering. Nun muss alles dafür getan werden, dass Vernunft und Augenmaß in den Diskussionen herrscht oder wieder einzieht.

Umso wichtiger sind daher im Augenblick die Emotionen, die der Fußball freisetzt. Er hat den schönen Nebeneffekt, dass endlich einmal wieder über Frankreich ausführlich berichtet wird, nicht nur über die Fußballspiele, sondern auch über dieses schöne Gastgeberland, das im Westen Europas der wichtigste Partner Deutschlands ist. Und damit wird in den nächsten Wochen auch das vielgescholtene Thema Europa in den Medien eine wichtige Rolle spielen. In den Zeitraum des Fußballturniers wird die Entscheidung Großbritanniens über den Verbleib in der EU fallen. So gesehen, muss man sich eigentlich wünschen, dass die englische Mannschaft ins Endspiel kommt und von mir aus gewinnt. Aber genauso wichtig scheint mir die Botschaft, dass man Fußball nicht für sich allein spielen kann, dass man Gegner und am Ende Partner braucht, um in einer Liga oder in einem Turnier um die Meisterschaft zu kämpfen.

Und schließlich die Türkei, die bei der Europameisterschaft in der Nachbargruppe der Deutschen spielt. Die Tatsache, dass sie beim Hauptereignis dieses europäischen Sportjahres dabei ist, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Vielleicht muss selbst der türkische Staatspräsident darauf Rücksicht nehmen, vielleicht kommt bei einem günstigen Abschneiden der Mannschaft ein anderer Ton in die Debatten. Vielleicht schaut er sich ein Spiel selber an, um festzustellen, dass die meisten europäischen Fußballmannschaften im besten Sinne multikulturelle Teams sind, dass der Sport Vorbilder schafft und am Ende die Integration fördert. Die Reaktionen auf die Boateng-Schelte von Alexander Gauland waren interessant, selbst die AfD muss auf die Einstellung des deutschen Fußballfans in dieser Frage Rücksicht nehmen. Mindestens genauso hat das Mekka-Photo von Mesut Özil die Gemüter bewegt, ob gläubig oder ungläubig. Vielleicht löst es am Ende Nachdenklichkeit aus, auch über die Gülen-Bewegung. Nur wenige in Deutschland wissen, wie groß der Druck auf ihre Anhänger in der Türkei ist. Ein erlösendes Wort der deutschen Politik wäre längst angebracht. Immerhin halten einige Politiker in den Ländern stand, wenn ihnen empfohlen wird, ihre Teilnahme an Veranstaltungen der Bewegung abzusagen. Viele deutsche Medien halten sich zurück, obwohl den Einsichtigen mittlerweile klar sein sollte, dass einer der Hauptvorbehalte gegen die Bewegung gefallen ist. Sie gehört zu dem am meisten Verfolgten in der Türkei, sie benötigt Solidarität, und sei es nur eine Solidarität der Worte und kleinen Gesten.

Der deutsche Fußballfan ist gut beraten, sich gedanklich ein wenig auf das EM-Turnier vorzubereiten. Vor vier Jahren und bei der WM in Brasilien konnte man sich leicht verständigen, weil nur die deutsche Fußballnationalmannschaft eine Projektionsfläche für Mehrheitsdeutsche und Deutsche mit türkischen Wurzeln bot. Das wird dieses Mal anders sein, und das wird Takt und Respekt vor der Leistung des anderen erfordern. Der Ausweg kann nicht darin bestehen, zwei Trikots übereinander zu ziehen und sie nach Bedarf vorzuzeigen. Aber vielleicht lohnt es sich, ein wenig darüber nachzudenken, wie man einen Sieg feiert und den anderen dabei in seiner Niederlage nicht vergisst. Der Fußball ist wichtig, mitunter zu wichtig, aber die EM bietet für Deutsche und Türken am Ende eine doppelte Chance. Hoffentlich wird sie genutzt.