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Politik

Die Erklärung von Abdullah Öcalan im Wortlaut

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Anbei dokumentieren wir die gestern vorgelesene Erklärung des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan im Wortlaut. (Foto: cihan)

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Die Erklärung von Abdullah Öcalan im Wortlaut
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Das Newroz-Fest der Unterdrückten möge gesegnet sein

Gegrüßt seien das Erwachen, die Wiederbelebung und die Auferstehung der Menschen in Zentralasien und im Nahen Osten, die den Newroz gemeinsam feiern.

Gegrüßt seien die Menschen, die den Newroz, der die Geburt einer neuen Ära darstellt und Licht des Tages ist, mit großer Begeisterung und demokratischer Toleranz brüderlich und schwesterlich feiern.

Gegrüßt seien die Wanderer dieses großen Weges, die als demokratische Völker für Freiheit und Gleichberechtigung sind.

Euch grüßen von den Hängen von Zağros und Toros, aus den Tälern von Fırat (Euphrat) und Dicle (Tigris) die Kurden, eines der ältesten der antiken Völker, das in Anatolien und Mesopotamien die Landwirtschaft, die dörfliche und die städtische Zivilisation hervorgebracht hat.

Diese tausend Jahre alte große Zivilisation umarmte verschiedene Ethnien, Religionen, Rechtsschulen und hat sie brüderlich und freundschaftlich miteinander leben lassen. Die Flüsse Fırat und Dicle sind mit Geschwister der Flüsse Sakarya und Meriç. Die Berge Ağrı und Cudi sind befreundet mit den Bergen Kaçkar und Erciyes. Die Tänze Halay und Delilo sind mit den Tänzen Horon und Zeybek verwandt und verschwägert.

Diese große Zivilisation, diese Geschwister-Völker wurden durch politischen Druck und äußere Einflüsse aufeinander gehetzt und waren Opfer von opportunistischen Gruppierungen. Es wurde versucht, Ordnungen zu schaffen, die frei von Gerechtigkeit, Recht, Gleichberechtigung und Freiheit sind.

Die Eroberungskriege der letzen 200 Jahre gehen auf das Konto der westlich-imperialistischen Unterdrückungsmechanismen, die versucht haben, die Araber, Pharisäer und kurdischen Völker in Nationalstaaten umzuwandeln, ihnen virtuelle Grenzen zu setzen und sie in künstliche Probleme zu verwickeln.

Die Zeit der Kolonialregime, des repressiven und ignoranten Denkens ist abgelaufen. Die Völker des Mittleren Ostens und Zentralasiens wachen endlich auf. Sie kehren zu ihren Wurzeln zurück. Sie gehen nicht mehr auf das Spiel ein, das sie aufeinander gehetzt hat und sie setzen den unsäglichen Kriegen und Hetzen ein Ende.

Die Menschen, vom Feuer von Newroz ergriffen, wollen alle Plätze in Scharen belegen, Millionen wollen endlich den Frieden, sie wollen Brüderlichkeit und sie wollen eine Lösung.

Durch diesen Kampf, der mit meinem individuellen Aufstand gegen die Ausweglosigkeit, in die ich geboren wurde, gegen Ignoranz und Knechtschaft begann, wollte ich ein Bewusstsein, ein Denken, einen Geist gegen jede Art von Zwang schaffen. Heute sehe ich, wie weit dieser Aufschrei geführt hat.

Unser Kampf war niemals gegen eine Ethnie, eine Religion oder eine Gruppierung und wird es auch nie sein. Unser Kampf war gegen die Unterdrückung, die Unwissenheit, die Ungerechtigkeit und gegen den Anachronismus sowie alle Versionen der Unterdrückung.

Heute wachen wir in einer neuen Türkei, einem neuen Mittleren Osten auf und sehen in eine neue Zukunft.

Liebe Jugendliche, ihr, die meinen Aufruf hört, großmütige Frauen, die meine Aussagen mit Respekt annehmt, all diejenigen Freunde, die meine Worte akzeptieren, die meine Stimme hören, heute beginnt eine neue Ära.

Es öffnet sich eine Tür, die den Übergang vom bewaffneten Krieg zu einer demokratischen Lösungsphase ermöglicht.

Es beginnt eine schwerwiegendere, nämlich politische, soziale und ökonomische Phase. Sie beruht auf das Verständnis für demokratische Rechte, Freiheiten und Gleichberechtigung.

Wir haben Jahrzehnte unseres Lebens für dieses Volk aufgeopfert und große Preise gezahlt.

Keiner dieser Kämpfe war umsonst. Die Kurden haben ihre eigene Identität, ihre Wurzeln und ihre Persönlichkeit zurückerobert.

Wir sind nun an dem Punkt angelangt, an dem es heißt: „Die Waffen sollen endlich schweigen, Ideen und Politik sollen sprechen.“ Dies wurde von einem modernistischen Paradigma bis jetzt ignoriert, das nun zerschlagen worden ist.

Ob Türken, Kurden, Lasen oder Tscherkessen – die Menschen dieser Region bluten und mit ihnen das Land.

Ich sage vor Millionen Menschen, die mich hören und meine Worte bezeugen können, dass eine neue Ära beginnt. Es werden von nun an keine Waffen sprechen, sondern die Politik. Es ist Zeit, dass sich unsere bewaffneten Elemente hinter die Grenzen zurückziehen.

Ich glaube fest daran, dass diejenigen, die mich in ihre Herzen eingeschlossen haben, sensibilisiert sind für diese Friedensverhandlungen und sie bis zum Schluss berücksichtigen und befolgen werden.

Dies ist kein Ende, sondern ein Neuanfang. Es ist nicht das Unterlassen des Freiheitskampfes, sondern nur eine andere Art, die Bekämpfung von Ungerechtigkeit zu beginnen. 

Ethnisch reine und mono-nationale Gebiete zu schaffen, ist eine unmenschliche Praxis der Moderne, die unseren Wurzeln und unserer Identität widerspricht.

Um ein Land zu schaffen, das der Geschichte Kurdistans und Anatoliens würdig ist und das allen Völkern einschließlich der Kurden Gleichheit, Freiheit und Demokratie bietet, kommt allen eine große Verantwortung zu.

Ich rufe anlässlich dieses Newrozfestes genauso wie die Kurden auch die Armenier, Türkmenen, Aramäer, Araber und alle anderen Völker dazu auf, das Licht der Freiheit und Gleichheit, das aus den heute angezündeten Feuern leuchtet, auch als ihre eigenes Licht der Freiheit und Gleichheit zu betrachten.

Sehr geehrtes türkisches Volk!

Das türkische Volk, das in der Türkei, dem antiken Anatolien, lebt, soll wissen, dass das beinahe tausendjährige Zusammenleben mit den Türken unter der Flagge des Islam auf dem Gesetz von Geschwisterlichkeit und Solidarität beruht. In diesem Gesetz der Geschwisterlichkeit in seiner wahren Bedeutung ist und darf kein Platz sein für Eroberung, Verleugnung, Zurückweisung, Zwangsassimilation und Vernichtung.

Die Politik der letzten 100 Jahre basierte auf Repression, Vernichtung und Assimilation und stützte sich auf die kapitalistische Moderne. Sie stellte das Bestreben einer kleinen Machtelite dar, welche die Geschichte und das Gesetz der Geschwisterlichkeit in ihrer Gänze leugnete, aber nicht den Willen des Volkes repräsentierte. Heute ist offensichtlich, dass dieses Joch der Tyrannei der Geschichte und der Geschwisterlichkeit widerspricht. Um es gemeinsam abzuwerfen, rufe ich uns alle als die beiden grundlegenden strategischen Mächte des Mittleren Ostens dazu auf, die demokratische Moderne in einer Weise aufzubauen, die unseren Kulturen und Zivilisationen gerecht wird.

Die Zeit ist reif für Zusammenschluss, Gemeinsamkeit, Umarmung und Vergebung und nicht für Streit, Auseinandersetzung und gegenseitige Degradierung. In Çanakkale haben Türken und Kurden Seite an Seite gekämpft und den Befreiungskrieg gemeinsam geführt. Sie haben 1920 das Parlament gemeinsam eröffnet.

Unsere gemeinsame Vergangenheit deutet darauf hin, dass wir auch auf eine gemeinsame Zukunft hin arbeiten sollten. Der bei der Gründung des türkischen Parlaments vorhandene Gründungsgeist beleuchtet auch die heutige neue Ära.

Ich rufe alle unterdrückten Völker auf, alle Klassen und Kulturvertreter, die seit eh und je ausgebeuteten und unterdrückten Frauen, die unterdrückten Rechtsschulen, die Sekten und andere Kulturgemeinschaften, die Arbeiterklassen und ihre Vertreter… und alle, die vom System diskriminiert wurden, rufe ich auf, euren Platz in der modernen Demokratie, die die einzige Alternative ist, sich aus den Zwängen der Unterdrückung zu befreien, einzunehmen.

Der Mittlere Osten und Zentralasien sind auf der Suche einer zeitgemäßen Moderne und einem demokratischen Konzept, das ihrer eigenen Geschichte entspricht. Die Suche nach einem Modell, welches das freie und geschwisterliche Zusammenleben aller zulässt, ist zu einem so dringlichen Bedürfnis wie Brot und Wasser geworden. Es ist unvermeidlich, dass wieder Anatolien und Mesopotamien, die dortige Kultur und Zeit, Vorreiter bei seinem Aufbau sein werden.

Wir erleben gerade die Zeit des Befreiungskrieges von damals, als Türken und Kurden gemeinsam den Krieg geführt haben, nur jetzt in einer anderen Version, die komplizierter und auch tiefsinniger ist.

Trotz der Fehler, Lücken und Fahrlässigkeiten der letzten 90 Jahre versuchen wir die Unterdrückten aufzurufen, ein von Klassen und Kulturkämpfen befreites Modell gemeinsam aufzustellen. Ich rufe hiermit alle auf, die für Gleichberechtigung, Freiheit und Demokratie sind, sich zu vereinen, um eine freiheitliche und demokratische Verwirklichung zu erreichen.

Der Nationaleid (Misak-i milliye) von damals wurde gebrochen. Kurden, Turkmenen, Aramäer und Araber, die in Verletzung des Nationalpaktes geteilt wurden und heute in Syrien und der Arabischen Republik Irak schweren Konflikten und Problemen ausgesetzt sind, rufe ich auf, gemeinsam auf einer „Nationalen Solidaritäts- und Friedenskonferenz“ ihre Situation zu diskutieren, ein Bewusstsein zu schaffen und Beschlüsse zu fassen.

Auf diesen Gebieten wurde damals das „Kollektive” groß geschrieben und heute von engstirnigen Herrschaftseliten auf einen „Individualismus” reduziert. Es wird Zeit, dem „WIR“ seine alte Seele und Praxis zurück zu geben.

Wir werden uns stark machen gegenüber denen, die uns spalten und aufeinander hetzen wollen. Wir werden uns zusammenschließen gegen diejenigen, die uns trennen wollen.

Diejenigen, die den Zeitgeist nicht lesen können, werden auf dem Müllhaufen der Geschichte landen. Wer sich gegen den Strom des Wassers stellt, wird auf den Abgrund zugetrieben. Die Menschen in der Region bezeugen die Geburt einer neuen Ära.

Die Völker im Nahen Osten sind müde von den ganzen Kriegen, Auseinandersetzungen und Spaltungen. Sie wollen aus ihren Wurzeln neu auferstehen und Seite an Seite stehen. Dieser Newroz ist eine Erneuerung für uns alle.

Die Botschaften von Moses, Jesus und Mohammed (Friede sei mit ihnen) werden heute neu umgesetzt. Der Mensch versucht das zurück zu gewinnen, was er verloren hat.

Wir leugnen nicht alle zivilen Werte des Westens. Wir nehmen die aufklärenden, gleichberechtigten, freiheitlich und demokratischen Werte und verbinden sie mit unseren Werten. Wir bilden aus den universellen Werten und unseren Lebensformeln eine Synthese.

Die Basis des neuen Kampfes sind Gedanken, Ideologie, demokratische Politik und der Beginn einer großen demokratischen Offensive.

Gegrüßt seien diejenigen, die diese Offensive bekräftigen und diejenigen, die die demokratischen Friedenslösungen unterstützen!

Gegrüßt seien diejenigen, die Verantwortung bei der Verbrüderung der Völker, der Gleichberechtigung und der demokratischen Freiheit übernehmen.

Es lebe der Newroz, es lebe die Bruderschaft der Völker!

İmralı-Gefängnis, 21. März 2013

Abdullah ÖCALAN