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Geschichte

Die erstaunliche Parallele zwischen der osmanischen Spätzeit und der Erdoğan-Ära

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Das Osmanische Reich war über mehrere Jahrhunderte hinweg das Machtzentrum der Welt. Spätestens nach der Eroberung Konstantinopels errang es diesen Status. Im Topkapı-Palast liefen jegliche Fäden aus den zum Teil über 1.000 Kilometer entfernt liegenden Reichsgebieten zusammen. Doch als der Machtzerfall längst offensichtlich geworden war, wurden für viel Geld neue Paläste und Residenzen errichtet, anstatt sich neu auf- und auszurichten.

1.000 Zimmer in Ankara, neue Sommerresidenz in Marmaris mit feinstem Sand von einem fernen Strand, ein weiterer Bau in Bitlis-Ahlat: Unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan sind in der Türkei nicht nur viele Straßen und Brücken entstanden, sondern auch mehrere Paläste. Auf seiner kürzlichen Reise in den Norden Zyperns kündigte er einen weiteren Bau für den türkischen Teil der Insel an. „Am Ansehen spart man nicht“ wurde zu einem geflügelten Slogan der letzten Jahre, den Erdoğan und seine Anhänger immer wieder wiederholen. Regierungskritiker und -gegner halten entgegen, dass sich das Ansehen eines Staates nicht an der Zahl seiner Prachtbauten messen lasse. Es müsse stattdessen in Bildung und Wirtschaft investiert werden. Sie werfen der Regierung die Verschwendung von Steuergeldern vor. Während Menschen keine Jobs hätten und in Armut lebten, sei es ein fatales Zeichen, einen Bau nach dem anderen hochzuziehen.

In diesem Zuge merkte der regierungskritische Journalist Levent Gültekin an, dass es eine erstaunliche Parallele zwischen der jetzigen Türkei und der osmanischen Spätzeit gebe. Auch die Osmanen hätten in ihren letzten Jahren mehrere Paläste gebaut, obwohl es der Staatskasse nicht gut gegangen sei. So habe man versucht, den Niedergang des einst so mächtigen Reiches zu verschleiern. Was ist dran an diesem Vorwurf? Kann man tatsächlich einen solchen Vergleich ziehen?

Aus Konstantinopel wird Istanbul

Um diese Frage beantworten zu können, ist es sinnvoll, in die Anfangs- und Aufstiegszeit der Osmanen zurückzublicken. Sultan Mehmed II. gilt als wohl der bedeutendste und visionärste Herrscher der Osmanen-Dynastie. Unter ihm gelang es nicht nur, Konstantinopel einzunehmen, er war es auch, der die Grundlagen dafür legte, die die regionale Macht später zu einem Weltreich werden ließen. Er erließ zahlreiche Gesetze (sogenannte Kanunname), stabilisierte das Reich, baute Istanbul zu dessen neuer Hauptstadt auf und eroberte sowohl im Westen als auch im Osten neue Gebiete.

Damit Istanbul als Nachfolger von Bursa und Edirne zur neuen Hauptstadt werden konnte, benötigte es ein Regierungszentrum. Zuerst gab Mehmed II. den Bau des Eski Saray („Alter Palast“) in Auftrag, dieser wurde allerdings nur etwa 20 Jahre genutzt. Kurz vor seinem Tode ließ er dann 1478 den Topkapı-Palast errichten. Von hier aus sollte das Reich bis Mitte des 19. Jahrhunderts regiert werden.

Im Topkapı lebten einst 4.000 Menschen

Der Palast, der heute als Museum besucht werden kann, besticht nicht unbedingt durch seine Imposanz. Er erstreckte sich in seiner Anfangszeit auf rund 700.000 Quadratmeter und bestand aus mehreren Komplexen, die die Nachfolger von Mehmed II. anbauen oder erweitern ließen. Zeitweise lebten und arbeiteten hier etwa 4.000 Menschen: der Sultan, seine Familie, sein Harem, Soldaten und seine Bediensteten.

Die späteren osmanischen Herrscher nutzten Topkapı weiterhin, die früheren Residenzen in Bursa und Edirne dienten auf Feldzügen oder Durchreisen als Zwischenhalt oder im Sommer als Sommerresidenz. Im Gegensatz zum Topkapı ist heute von ihnen nicht mehr viel oder gar nichts zu sehen.

1683 hatte der Niedergang der Osmanen längst eingesetzt

Die Osmanen, deren Außenpolitik sich in erster Linie darauf stützte, neue Gebiete einzunehmen, erreichten im 16. und 17. Jahrhundert den Höhepunkt ihrer Macht. Zum Reichsgebiet gehörten unter anderem fast der gesamte Balkan, weite Teile Nordafrikas, die Arabische Halbinsel und der Nahe Osten. Bei der Zweiten Belagerung von Wien im Jahre 1683 war die osmanische Armee noch sehr gefürchtet, ihren Unbesiegbarkeitsmythos hatte sie damals allerdings schon verloren. Mit dem Schock der Niederlage wurden viele Gebiete in sich anschließenden Schlachten verloren oder mussten in Verhandlungen abgetreten werden. Neue Gebiete kamen ab 1700 nicht mehr hinzu. Stattdessen befasste man sich in Istanbul mehr mit Kunst und Kultur.

Fähige Herrscher waren nunmehr die Ausnahme. Auch wenn es Bestrebungen gab, Armee, (Land-)Wirtschaft oder die Bildung zu modernisieren, blieb vieles Stückwerk. Wenn ein Sultan es wagte, ernsthafte Reformen durchzuführen, wurde er seinen Thron los oder musste sogar mit seinem Leben bezahlen. Die Janitscharen, einst dem Sultan treu ergebene Elitekämpfer innerhalb der mächtigen osmanischen Armee und wichtiger Faktor beim Aufstieg zur Weltmacht, wurden nun zu einem gefährlichen Klotz am Bein, der erst 1826 mit Gewalt ausgeschaltet werden konnte.

Fast 400 Jahre lang war der Topkapı-Palast das Zentrum der osmanischen Macht

Während gut 400 Jahre lang der Topkapı-Palast als Regierungszentrum diente und den Aufstieg der Osmanen zur Weltmacht begleitete, erschien er ab den 1850er Jahren den Urenkeln Mehmeds II. nicht mehr zeitgemäß genug. Innerhalb weniger Jahre entstanden zahlreiche neue Paläste, allesamt in Istanbul. Europa diente von nun an nicht nur militärisch als großes Vorbild. Nach dem Muster europäischer Prachtbauten wurden der Dolmabahçe-, Çırağan- oder Yıldız-Palast errichtet. Sie hatten äußerlich und innerlich nur noch wenig mit dem Topkapı-Palast gemein. Eher ähnelten sie dem Schloss von Versailles in Frankreich.

Für diese architektonischen Meisterwerke, die heute noch viele Besucher in ihren Bann ziehen, gaben die Osmanen viel Geld aus – Geld, das sie sich von englischen und französischen Banken liehen. Und das in Zeiten, in denen das Reich dem Staatsbankrott nahe war.

Längst hatte sich die osmanische Herrscherfamilie vom Volk entfremdet. Abdülhamit II. erkannte das zwar, doch es war schon zu spät, um das sinkende Schiff noch zu retten. Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg war die Messe für das einst so berüchtigte und bewunderte Reich gelesen.

Gemeinsamkeiten ja, aber auch zwei Unterschiede

Zwischen den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts errichteten Palästen der Osmanen und den in den letzten Jahren entstandenen Palästen der Erdoğan-Ära lassen sich durchaus Gemeinsamkeiten erkennen – vor allem bei den Rahmenbedingungen. Es kommt jedoch auf die Lesart an. Auf das Osmanische Reich können wir heute in der Retrospektive zurückblicken; auf die Zeit Erdoğans noch nicht. Zwei Unterschiede gibt es jedoch, die nicht unerwähnt bleiben sollen: Die Osmanen bauten ihre Werke fast ausschließlich in Istanbul, Erdoğan nicht. Und auf fremde Gelder zur Finanzierung dieser verzichtet die heutige Regierung auch.

Auf dem Zenit ihrer Macht scherten sich die Sultane wenig um Ruhm und Ansehen. Das änderte sich erst, als das Reich zu stagnieren begann und Intrigen das Geschehen am Hof bestimmten. Wie auf die in den letzten Jahren in Auftrag gegebenen Paläste in Marmaris und Co. zurückgeblickt werden wird, werden die kommenden Jahrzehnte zeigen.

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