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Politik

Die gestrige Tragödie war ein Pyrrhussieg für die Demokratie

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KOMMENTAR Erdoğan hat gesiegt. Es ist gut und richtig, dass der gestrige Putsch gescheitert ist. Das Verhalten der Menschen – und ja, explizit auch der AKP-Anhänger–, die auf die Straßen gegangen sind und sich dem Militär in Teilen friedlich entgegengestellt haben, war mutig und richtig. Dennoch, die gestrige Nacht war eine Tragödie. Über zweihundert Tote, für nichts und wieder nichts. Und auch für die Demokratie war der Widerstand der Bevölkerung nur ein Pyrrhussieg.

Viel wird die Vermutung oder gar Überzeugung geäußert, dass der gestrige Putschversuch nicht von einem verräterischen Zirkel innerhalb des Militärs dilettantisch durchgeführt, sondern von Erdoğan selbst inszeniert wurde. Das ist keine erst im Nachhinein aufgestellte Hypothese, sondern war von Anfang an der Standpunkt und die Überzeugung vieler regierungskritischer Türken hierzulande gleichermaßen wie in der Türkei. Und das wohl bemerkt nicht, nachdem ein Scheitern des Putsches absehbar oder bereits unumstößliche Tatsache war, sondern noch bevor überhaupt Klarheit herrschte, was genau vor sich geht. Es war tatsächlich sogar die allererste Reaktion überhaupt, die ich auf die zu diesem Zeitpunkt noch als Gerüchte vernommenen Meldungen über einen möglichen Staatsstreich gehört habe: „Ein Putsch? Niemals, das wird nicht erfolgreich sein. Das ist nur seine bisher größte Inszenierung auf dem Weg in die Alleinherrschaft.“

Selbstverständlich sind all das nur mehr oder weniger abwegige Mutmaßungen – für die es Indizien gibt, aber gegen die man eben auch Argumente anbringen kann. Allein, dass es keine obskuren Randmeinungen von Verschwörungstheoretikern oder politisch Radikalen sind, sondern es viele Menschen mit Fachkenntnis und Sachverstand sind, die diese Theorie vertreten; die es nicht nur für realistisch halten, sondern Erdoğan auch diese Menschenverachtung zutrauen, sagt sehr viel über die politische und gesellschaftliche Lage in der Türkei aus.

Die Sache ist jedoch: Im Endeffekt ist es eigentlich so gut wie egal, ob es ein dilettantischer Putschversuch, eine inszenierte Machtergreifung oder eine Mischung aus beidem war – denn die Folgen sind dieselben. Es ist ein triumphaler Sieg für Erdoğan, den er und seine Kamarilla scham- und hemmungslos ausnutzen, ja gar missbrauchen werden. Damit ist nicht die Verurteilung und Bestrafung der Drahtzieher des Putsches gemeint. Sie gehören bestraft, daran darf gar kein Zweifel bestehen.

Viel ist seit gestern Abend die Rede von „Säuberungen“ innerhalb des Militärs. Die muss es tatsächlich geben. Elemente innerhalb der Streitkräfte, die sich als über einer demokratisch legitimierten Ordnung stehend sehen, haben keinen Platz in dieser. Das Militär eines demokratischen Landes muss der Verfassung verpflichtet sein, nicht einer Ideologie und erst recht nicht eigenen Interessen. Diese „Säuberungen“ dürfen aber keine Siegerjustiz sein, sondern müssen nach rechtsstaatlichen Standards erfolgen. Nur liegt der türkische Rechtsstaat schon seit längerem am Boden. Es ist deshalb naheliegend, zu befürchten, dass Erdoğan in naher Zukunft auch Offiziere schassen und hinter Gitter bringen wird, die nicht in den Putsch verwickelt waren, deren Vergehen es jedoch ist, keine Parteigänger seiner Allmachtsambitionen zu sein. Und das gilt mitnichten nur für das Militär. Bereits einen Tag nach den Ereignissen wurden heute 2700 Richter abgesetzt. Oder will jemand ernsthaft behaupten, dass über Nacht in 2700 Einzelfällen eine Verstrickung in die Machenschaften der Putschisten ermittelt wurde?

Was ebenso mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit passieren wird: Der Putschversuch wird in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren als Waffe gegen den politischen Gegner jenseits tatsächlicher Verwicklungen in ihn genutzt werden. Nicht nur bietet er Erdoğan eine der besten Möglichkeiten aller Zeiten, aus der Täterrolle herauszutreten und sich (auch auf dem internationalen Parkett) als Opfer zu inszenieren.Mehr noch: Waren es bisher Vorwürfe wie Verbindungen zur oder Propaganda für die PKK oder die Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen „Parallelstruktur“, die bei Licht betrachtet in den meisten Fällen an den Haaren herbeigezogener Unfug sind, wird nun die behauptete Parteinahme für oder gar Beteiligung am Putschversuch eines der mächtigsten Totschlagargumente sein.

Nun kann Erdoğan sich des gerechten Zorns der türkischen Bevölkerung bedienen, um seinen politischen Gegnern den Garaus zu machen. Man muss befürchten, dass er von nun an noch unerbittlicher gegen jeden vorgehen wird, der sich ihm nicht unterordnen will. Es ist klar geworden, dass nicht einmal das Militär, die einst stärkste Institution des türkischen Staates, ihn noch aufhalten kann oder will. Nicht unwahrscheinlich, dass die gestrige Nacht als der Startschuss für den endgültigen Umbau der Türkei in eine Diktatur in die Geschichte eingehen wird. Nicht die Demokratie hat gestern gesiegt, sondern Erdoğan.