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Gesellschaft

„Die Gründe für den Erfolg des IS liegen in Europa, also muss auch die Lösung aus Europa kommen“

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Der Terror ist in Europa angekommen, seit der Anschlagserie im Sommer auch in Deutschland. Peter Neumann erforscht den internationalen Terrorismus seit mehr als 20 Jahren. Der Politikwissenschaftler leitet das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) in London. Am heutigen Freitag erscheint sein neues Buch. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur erklärt er, wie der Terror sich in den vergangenen Jahren verändert hat und wie die Gesellschaft ihm begegnen kann.

Herr Neumann, in Ihrem Buch beschreiben Sie den Dschihadismus in Europa. Was macht dieses Phänomen aus?

Junge Menschen in ganz Europa, typischerweise die Kinder oder Kindeskinder derjenigen, die als Einwanderer gekommen sind, fühlen sich in Europa nicht richtig aufgehoben. Sie gehören meist zur muslimischen Unterklasse, leben in vielen Städten in Ghettos und sehen keine Perspektiven für ihr Leben. Sie fühlen sich von der Ideologie des „Islamischen Staates“ (IS) angesprochen.

Warum?

Es handelt sich um eine sehr schlichte Ideologie, die diesen Menschen verspricht, Helden aus ihnen zu machen. Für viele, die 2013, 2014 in den IS gezogen sind, war das die Hauptmotivation. Der IS ist eine Gegenkultur, er steht gegen alles, was in der westlichen Kultur heilig ist. Doch es geht seinen Anhängern auch darum, in dieser Gegenwelt Erfolge zu erreichen – und das in kürzester Zeit. Das ist ein bisschen anders als noch vor 15 bis 20 Jahren.

Die Anschläge vom 11. September sind nun 15 Jahre her. Was hat sich seither verändert?

Der IS will einen anderen Typus ansprechen. Al-Qaida hat versucht, theologisch zu argumentieren, Teil des öffentlichen Diskurses zu sein. Die typischen Anhänger waren Studenten, wie die Attentäter des 11. September 2001. Zu jedem Anschlag gab es ein Buch. Vom IS kommen dagegen eine kurze Erklärung und ein Video, aufgemacht wie Computerspiele. Wir haben also einerseits eine Generation von Frustrierten und andererseits eine Gegenkultur, die genau dieser Frustration einen Sinn verleihen will.

Zugleich erklären Sie in Ihrem Buch, dass das vorherrschende Bild vom perspektivlosen Terroristen etwas zu schematisch ist.

Wir beobachten eine Demokratisierung des Dschihad: So sind heute viele Frauen dabei oder Konvertiten, also Menschen, die weder einen muslimischen noch einen Migrationshintergrund haben. Vor 20 Jahren hätte niemand voraussagen können, dass heute 13- bis 14-jährige Mädchen nach Syrien ziehen. Der IS spricht sehr junge und auch ältere Menschen an; auch sind immer noch Studenten dabei. Dies lässt sich jedoch nie durch eine einzige Ursache erklären: Auf jeden, der arm und perspektivlos ist und zum Terroristen wird, kommen tausende, die in derselben Situation sind, aber eben keine Terroristen werden. Insofern sind schablonenartige Erklärungen problematisch.

Zugleich wird die Suche nach Erklärungen nach jedem Anschlag hektischer, die Berichterstattung schneller. Wie beurteilen Sie das?

Nach einem Anschlag ist die Gefahr neuer Anschläge besonders hoch: IS-Anhänger sind dann wie elektrisiert, jeder will selbst aktiv werden. Hinzu kommen Menschen etwa mit geistigen Problemen, die sich dieser Welle anschließen wollen. Diese Dynamik ließ sich im Sommer beobachten – und sie ist sehr gefährlich. Das gilt vor allem für die europäischen Gesellschaften, die bereits stark polarisiert sind. Die Hauptgefahr des Terrorismus ist nicht nur, dass Menschen zu Tode kommen, sondern die politische Polarisierung. Die Gewinner sind Dschihadisten und Rechtspopulisten, also die Extremisten auf beiden
Seiten.

Eine stets wiederkehrende Frage lautet: Welche Rolle spielt die Religion?

Man kann nicht sagen, dass der islamistische Terror nichts mit dem Islam zu tun hat. Religion ist in der Regel nicht das Kernproblem. Sie kann aber problematisch werden, weil sie eine motivierende und verstärkende Wirkung haben kann. Der IS ist islamisch, aber er kommt aus einer sehr kleinen und randständigen Ecke des Islam. Wer sich dem IS anschließt, hat zumeist keine religiöse Grundbildung, so dass die Extremisten mit ihren religiösen Versatzstücken leichtes Spiel haben. Manches, das der IS über den Islam verbreitet, stimmt, vieles andere aber nicht. Insofern brauchen junge Menschen eine religiöse Grundbildung: Nur dann können sie solche vereinfachten Konzepte kritisch hinterfragen und dagegen argumentieren.

Ist der Islamunterricht eine Lösung?

Der Islamunterricht ist durchaus eine gute Idee. Allerdings werden in ihn zu viele Hoffnungen gesteckt, denn religiöse Grundbildung allein löst das Problem nicht. Es geht auch darum, Antworten auf existenzielle Fragen zu finden: Wo ist mein Platz, wie kann ich als junger Muslim in Deutschland leben? An ihrer Moschee finden die Betroffenen oft niemanden, der sich damit auskennt. Imame, die aus der Türkei, Saudi-Arabien oder Äthiopien kommen, haben mit der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen in Europa wenig zu tun. Dann gehen sie also ins Internet – und stoßen dort auf einen Salafistenprediger, der gut rüberkommt, die europäischen Sprachen spricht und sich mit ihren Problemen befasst. Das ist eine Tragödie.

Was könnten Institutionen wie die Islamverbände tun?

Sie haben diesem Problem bislang wenig entgegenzusetzen. Ich halte die Vorwürfe für abwegig, dass die Verbände zur Radikalisierung beitragen. Es kann allerdings auch nicht ihre Aufgabe sein, sich immer wieder vom Terror zu distanzieren. Sie müssen sich engagieren, etwas aufbauen, das aus Deutschland kommt und womit sich ein junger deutscher Muslim identifizieren kann. Die Gründe für den Erfolg des IS liegen in Europa, also muss auch die Lösung aus Europa kommen.