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Politik

Die Hermeneutik der Hexenjagd: Gülens ferngesteuerte Roboter

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In der Beurteilung der Gülen-Bewegung sind sich in der Türkei mittlerweile so gut wie alle einig, dass die Gülen-Bewegung eine gefährliche Terrororganisation von Vaterlandsverrätern ist. Konkrete Beweisführung im juristischen Sinne spielt dabei keine große Rolle, da bereits der nötige hermeneutische Rahmen geschaffen wurde, auf dessen Grundlage Hass und Gewalt gedeihen können.

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Demontsranten verbrennen Bilder von Fethullah Gülen
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Ein Gastbeitrag von Özgür Koca

Dieser Artikel untersucht nicht die Beteiligung der Gülen-Bewegung am Putschversuch in der Türkei. Es scheint, als würde es eine Menge Zeit in Anspruch nehmen, die wahren Hintergründe dieses versuchten Staatsstreiches zu verstehen, da die Informationen, die man zurzeit erhält, zweifelhaften Ursprungs sind und sich das Thema zu einem Politikum entwickelt hat. Diese Debatte sollte man Experten überlassen. Ich dagegen möchte mich auf ein anderes Thema konzentrieren: Die Hermeneutik der Beziehung zwischen dem Putschversuch und der angeblichen Beteiligung der Gülen-Bewegung daran.

Die meisten Analysten der türkischen Presselandschaft, die eine Verbindung zwischen dem Putschversuch und der Gülen-Bewegung herzuleiten versuchen, machen etwas Interessantes: Ohne konkrete Beweise vorzulegen, präsentieren sie zu Beginn jeder Analyse diverse Spekulationen, die mit juristischen Vorgängen eigentlich nichts zu tun haben. Einer dieser Spekulationen nach sei die Gülen-Bewegung eine Organisation, die auf dem Prinzip der Geheimhaltung und des Personenkults beruht. Ihre Anhänger seien durch das persönliche Charisma Gülens verzauberte Spinner und äußerst gefährliche Roboter, die man von außen per Knopfdruck aktivieren kann, wenn die Zeit gekommen ist. Wie auf Drogen hätten sie den Verstand verloren. Innerhalb der Organisation gäbe es nur ein einziges Mastermind, auf das jeder mit absolutem Gehorsam blicke.

Bevor also konkrete Beweise ins Feld geführt werden, speist man die Öffentlichkeit mit einer Geschichte ab, die auf Vermutungen beruht, die zu hinterfragen wären. Es ist kein Zufall, dass die türkischen Medien diese Spekulationen pausenlos wiederholen, obwohl sie doch stark an die Dystopien Hollywoods erinnern, eher lächerlich sind und wie das Ergebnis dilettantisch zusammengeflickter Verallgemeinerungen wirken. Mit Hilfe dieser Spekulationen wird ein hermeneutischer Rahmen geschaffen. Da die Beweise, die gegen die Gülen-Bewegung ins Feld geführt werden, bei näherem Hinsehen schwach sind, muss man sie mithilfe einer Illusion in einem durch Spekulationen geschaffenen hermeneutischen Rahmen größer erscheinen lassen, als sie sind. Dieser hermeneutische Rahmen dient als eine Art Lupe – es vergrößert das Kleine und harmonisiert juristisch unbedeutende Beweise.

Ein hermeneutischer Rahmen als Verstärker für vermeintliche Beweise

Neben der Tatsache, dass durch die Wiederholung dieser Spekulationen und ihre Präsenz auf der politischen Agenda der Eindruck entsteht, es handele sich hierbei ganz klar um Wahrheiten und man meint, man könne sich durch Hörensagen ein Bild von der Gülen-Bewegung machen, hat diese Vorgehensweise noch einen ganz pragmatischen Aspekt: In einem Umfeld, das mehr und mehr einem politischen Schlachtfeld gleicht, als dass es der Wahrheitsfindung dienlich ist, schafft man mit dem durch Spekulationen erzeugten hermeneutischen Rahmen eine Basis, auf der später Anschuldigungen prächtig gedeihen. Wenn sie glauben, dass die Gülen-Bewegung ein gefährlicher Kult sei, erscheinen die eigentlich so schwachen Beweise gegen die Bewegung plötzlich größer als sie es sind. Wenn man beispielsweise als einzigen Beweis anführt, dass bei einigen Verdächtigten 1-Dollar-Noten gefunden wurden, dann mutet das zunächst komisch an. In diesem hermeneutischen Rahmen jedoch fördert es die Glaubhaftigkeit der Anschuldigungen. So geht es im Prozess der Vorverurteilungen nicht um Beweise gegen die Gülen-Bewegung, sondern um die Schaffung eines hermeneutischen Rahmens, in dem diese Beweise vorgetragen werden. Das ist auch der Grund, weshalb in den türkischen Medien statt konkreter Beweise pausenlos die gleichen Behauptungen wiederholt werden. Nur wenn dieser hermeneutische Rahmen aufrecht erhalten wird, können die Beweise, wie mithilfe eines Verstärkers, immer lauter zu Gehör gebracht werden.

Dieser hermeneutische Rahmen gestattet gleichzeitig die Legitimierung der Gewalt, die gegen die Gülen-Bewegung angewandt wird. Glichen die Anhänger der Bewegung tatsächlich Robotern, die nur darauf warten, aktiviert zu werden, stellten sie eine akute bzw. potentielle Gefahr dar. In diesem Fall wäre Unterdrückung und Verfolgung aller mit der Bewegung in Verbindung stehender Personen gerechtfertigt. Zum Schutz der Allgemeinheit müssten sie ausgemerzt werden. Menschen, die sich der Bewegung angeschlossen haben, sind keine Menschen. Sie sind Roboter, sie sind Spinner. Man geht noch weiter: Sie sind Untermenschen. Personen, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung stehen, seien so üble Menschen, dass man sich ihnen gegenüber nicht mehr ethisch korrekt zu verhalten bräuchte.

Demonstranten am Taksim-Platz erhängen eine Puppe von Fethullah Gülen

Hat man die Behauptungen einmal verinnerlicht, spielen Schuld und Unschuld keine Rolle mehr. Diese Behauptungen eignen sich hervorragend, um jemanden zum Sündenbock zu machen. Die Medien und Intellektuellen, die diese Behauptungen verbreiten, leisten damit gewollt oder ungewollt der Gewalt Vorschub. Es ist kaum möglich, die vorherrschenden Behauptungen über die Gülen-Bewegung – um es mit Popper zu sagen – zu „falsifizieren“. Da sie nicht falsifiziert werden können, sind sie auch nicht wissenschaftlich. Einem Mitglied der Bewegung wird nicht gestattet, sich von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen freizusprechen. Selbst wenn es sich bei dieser Person um eine Koryphäe der Ethik handelt, wird sie doch nur als jemand betrachtet, der heuchlerisch seine eigentliche religiöse Identität verschleiert. Kritisiert sie das Vorgehen, wird sie zum Handlanger ausländischer Kräfte; schweigt sie, wird sie zur terroristischen Schläferzelle. Entweder sind sie parallel oder krypto-parallel. (Anm.: Die Bewegung wird seit Ende 2013 von Erdoğan, seiner Partei und großen Teilen der Medien abwertend als „Parallelstruktur“ bezeichnet.) Sogar wenn sie sich reumütig der anderen Seite anschließen, sind sie verdächtig. Sie werden wie eine aktive oder schlafende terroristische Zelle behandelt. Selbst wenn sie das Unmögliche möglich machen würden, die türkischen Medien und Intellektuellen haben sie derart in der Mangel, es würde ihnen zum Nachteil ausgelegt. Auf dieser Basis kann kein gesunder Diskurs geführt werden – und zurzeit sieht es nicht danach aus, als ob jemand daran Interesse hätte.

Die Macht beherrscht das Wissen

Dass die Behauptungen nicht so einfach falsifiziert werden können, bietet der Regierung die hervorragende Gelegenheit, einen Läuterungs-Mechanismus in Gang zu setzen. Wenn sie die Gülen-Bewegung als ein äußerst komplexes Schreckgespenst darstellt, dessen Anfang und Ende im Ungewissen liegt, kann sie ihr sogar sämtliche eigenen Fehler zuschreiben. Sie kriegt alle Anschuldigungen ab. Heute werden sie mit einem Attentat in Verbindung gebracht, morgen mit einer terroristischen Vereinigung. Der Einfluss der Gülen-Bewegung wird bewusst derart übertrieben dargestellt, dass man sie auch mit sehr viel größeren und ernsteren Verbrechen in Verbindung bringen kann. Auch einige Mitwirkende der Bewegung tappen in diese hermeneutische Falle und machen sich zum Steigbügelhalter solcher Anschuldigungen. Da dieser hermeneutische Rahmen in der türkischen Presse hundertfach wiederholt wird, entwickelt er sich langsam aber sicher zu einer Norm. Es ist geradeso, als ob wir mit Gramsci und Foucault sagen wollten, die Macht beherrscht das Wissen. Die hohe Zirkulation dieses „Wissens“ steigert den epistemologischen Reiz. Auch die Tatsache, dass eine große Mehrheit der türkischen Intellektuellen die Behauptungen der Regierung übernimmt, zeigt, wie schwach die Widerstands-Mechanismen gegen solche Diktate sind. Man ergibt sich der schwarzen Propaganda. Mit der Zeit haben sie die Anschuldigen derart verinnerlicht, dass sie zu deren freiwilligen Verfechtern mutieren.

Eine Debatte, die auf dieser hermeneutischen Grundlage geführt wird, kann keine Ergebnisse zeitigen – denn sie ist unwissenschaftlich, fern von empirischen und statistischen Erhebungen, äußerst bequem und wird missbraucht, um eigene Machtbeziehungen aufzubauen. Man wird nicht zur Ruhe kommen, bis das letzte Mitglied der Bewegung digeriert wurde – „ausgelöscht wurde“ wollte ich nicht sagen. Man lehnt es ab, nach Schuld und Unschuld zu unterscheiden. Jeder, der auch nur im Entferntesten etwas mit der Bewegung zu tun hat, wird als aktiv oder zumindest potentiell gefährlich und schuldig erklärt. Ein ausgemachter Enthumanisierungs-Mechanismus. Insofern legitimieren Journalisten und Intellektuelle in der Türkei, die sich dieser Behauptungen bedienen, die Gewalt gegen Mitglieder der Gülen-Bewegung und nehmen sie billigend in Kauf.


Zum Autor: Dr. Özgür Koca ist Juniorprofessor für Islamische Studien an der Claremont School of Theology in Kalifornien/USA und Mitherausgeber einiger wissenschaftlicher Zeitschriften wie Science, Religion, and Culture und Journal of Dialogue Studies. Koca verbrachte 10 Jahre seines Lebens in verschiedenen Ländern mit dem Lehren naturwissenschaftlicher Fächer. Nach Jahren der Forschung öffnete er sich neuen Horizonten auf dem Gebiet der Philosophie und Religion. Sein Studium dieser sehr unterschiedlichen Forschungsbereiche ermöglicht es ihm, interdisziplinäre Bezüge herzustellen und aus den Quellen der Naturwissenschaften, der Philosophie und der Theologie heraus eine konstruktive islamische Theologie zu entwickeln, die Antworten auf viele ethische, spirituelle, politische und religiöse Fragen unserer Tage bieten soll.