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Politik

Die Islamisten des türkischen Staates

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Die Türkei erschuf in den 1970er Jahren das Schreckgespenst des „Scharia-Staates“, sicherte sich zugleich mit dem 163. Paragraphen des Strafgesetzes ab und beauftragte seine Beamten damit, das selbsterschaffene Schreckgespenst zu bekämpfen.

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Ali Bulaç beschreibt zuerst und analysiert anschließend sehr zutreffend das Problem „Islamismus und der Staat“ mit all seinen Auswirkungen auf die Praxis. Der moderne Nationalstaat legitimiert seine Existenz und seinen Souveränitätsanspruch gegenüber anderen Staaten und auch seinen Bürgern ausschließlich über das Territorium und den „Willen“, der in den Grenzen dieses Territoriums zur Wirkung kommt. Damit macht er zugleich alle alten politischen Institutionen und Gewohnheiten, die vor dem Westfälischen Frieden von 1648 nicht nur unter den Muslimen, sondern in der ganzen Welt galten, zunichte. Noch vor knapp einem Jahrhundert wurde bei uns der Staat zwischen den Nachkommen des Sultans aufgeteilt und im Westen hatten Aristokraten gehörigen Anteil an ihm.

Die Gelehrten interessierten sich dafür, ob Ge- und Verbote eingehalten wurden und dem Volk ging es um Gerechtigkeit. Immer noch herrscht Verwirrung in dieser Frage, die seinen Grund in der Unvereinbarkeit zwischen tradierten islamischen Regeln und Instrumenten auf der einen und dem sich auf das Souveränitätsprinzip stützenden modernen Staat auf der anderen Seite hat. Der moderne Staat nutzt in seiner gegenwärtigen Form als Nationalstaat die Himmelsphäre, die sich über sein Territorium und über seine Bürger erstreckt, auch als Schutzschild nach außen. Immer wieder stoßen die Islamisten gegen diese Mauer und wissen keinen Ausweg zu finden. So viel zur Theorie.

Viele tappten in die Falle

Wie sieht es in der Realität aus? In der Realität haben sich die Identität, Persönlichkeit, Ideen und Gewohnheiten der Islamisten in einer Wechselbeziehung mit dem Staat gestaltet. Ein guter Freund, der sich selbst immer noch als Islamist bezeichnet, erzählte mir folgende persönliche Erfahrung aus den 1970er Jahren. Als er an einer Universität studierte, nahm ihn die Polizei ohne ersichtlichen Grund ins für politische Fragen zuständige Büro mit. Er wird einem beängstigendem Verhör nach dem Prinzip ‚guter Polizist, schlechter Polizist‘ unterzogen. Zum Schluss greift ein dritter Sicherheitsbeamter ein und beendet das Verhör mit der Aufforderung, „Du wirst für uns arbeiten!“. Mein Freund sagte mir, dass er die Zusammenarbeit zwar abgelehnt habe, viele aus seinem Bekanntenkreis jedoch in die Falle getappt seien und sich auf das Angebot eingelassen hätten.

Die Beziehungen der Islamisten zum Staat ist nicht nur in der Theorie eine Sackgasse. Sie ist in der Realität eine ganz miese Angelegenheit. Viele der heute hoch angesehenen Islamisten, die Parolen ausrufen wie „Wie könnt ihr nur gegen den Staat aufbegehren?“, sind „nachrichtendienstliche Informanten“, die in den 1970er Jahren angeworben wurden. Das ist nicht verwunderlich. Unser Staat hatte damals das Schreckgespenst des „Scharia-Staates“ (Gottesstaat) erschaffen, sich zugleich mit dem 163. Paragraphen des Strafgesetzes abgesichert und seine Beamten damit beauftragt, das selbsterschaffene Schreckgespenst zu bekämpfen.

Schreiberlinge, die eigentlich keine sind

Als erstes wandten sich die Beamten den umherirrenden Islamisten zu. Nachdem die Islamisten als Folge dieser Zusammenarbeit den Staat für sich vereinnahmt sahen, begegneten sie sich des Öfteren in staatlichen Einrichtungen und bei offiziellen Anlässen. Das hat wohl ihr Solidaritätsgefühl untereinander sowie ihre Bindung zum Staat gestärkt. Viele von ihnen arbeiten heute für die sogenannten „Pool-Medien“, verfassen Texte, in denen sie sich gezielt auf bestimmte Personen einschießen. Ich bin mir sicher, dass all diese eintönigen, verleumderischen und brutalen Schreiberlinge aus dem Personenkreis ausgesucht wurden, deren Geisteshaltung durch ihre langjährige Tätigkeit als „nachrichtendienstliche Mitarbeiter“ und durch ihre „Staatserfahrung“ geprägt ist. Die widerwärtigsten dieser regierungstreuen Schreiberlinge sind diejenigen, die in ihren eigentlichen Berufen die besten sind.

Nachrichtendienstliche Arbeit ist eine erste Angelegenheit und erfordert Scharfsinn. Die heuchlerische Arbeit als Nachrichtendienstmitarbeiter und das Doppelleben als solcher verdirbt und entartet. Den Staat hinter sich zu wissen hat zur Folge, dass man wie Blitz und Donner auf andere einschlägt oder sie verführt, benutzt und dann sitzen lässt. Wie kann man so ein Leben führen und zugleich seinen Anstand und seine Würde wahren? Was wir heute an Niveaulosigkeit hier und da beobachten, sollten Sie als Pflanze, die nur in so einem Sumpf gedeihen kann, sehen.

Zudem hat dieses niveaulose Machtspiel auch eine eigene Logik und Sinn. Autokratien brauchen Menschen mit bedingungslosem Gehorsam.

Der islamistische Journalismus

Braucht man unter diesen Umständen dann überhaupt noch qualifiziertes Personal, solange es Menschen gibt, die im Dienst an der Macht ihren Lebenssinn sehen? Qualität spielt dabei überhaupt keine Rolle. Wo findet man denn ansonsten den passenden Deckel für den Topf?

Die Grundlage des sogenannten islamistischen Journalismus, dem der Chefredakteur der Tageszeitung Zaman sein Ende bescheinigt, entfaltete sich genau in solch einem entarteten und verdorbenen Milieu. Kennen Sie eine „Pool-Berühmtheit“, die das Etikett „nachrichtendienstlicher Mitarbeiter“ nicht mit sich herumträgt? Diejenigen, die früher auf den dunklen Fluren des „Staates“, dem sie Gehorsam leisteten, herumlungerten, wähnen sich nun als die eigentlichen Machthaber und schlagen heute auf den Islamismus ein. Die Islamisten des Staates dienen in derselben Hierarchie und mit Disziplin wie früher. Nur mit einem Unterschied; heute dienen sie in der Gewissheit, sich gegenseitig in und auswendig zu kennen, einem autoritären Regime. Hätte ein aufrichtiger Islamismus in diesem Sumpf denn überhaupt eine Lebenschance?

* Mit dem Begriff „Havuz Medyası“ bzw. „Pool-Medien“ werden in der Türkei die regierungstreuen Medien umschrieben