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Geschichte

Die Kiezkultur der Osmanen

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Jahrhundertealte Vorurteile und populärkulturelle Verkürzungen prägen heute noch in unseren Breiten das Bild vom Alltagsleben der Osmanen. Dabei verfügten diese über eine außerordentlich lebendige Kultur des Stadtlebens. (Foto: A. Akgül)

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Um eine Zivilisation auszubauen, bedarf es nicht in erster Linie der Entwicklung moderner Maschinen, wie man möglicherweise oft denken mag. Im Vordergrund steht die Würdigung des Faktors Mensch selbst in Zusammenhang mit der Verstädterung.

Man denkt von den Osmanen, vor allem in Europa, dass sie fern der Städte in Zelten gelebt haben und ihr Tagesablauf vor allem von der Jagd geprägt war. Auch in dem Film „Der Medicus“ wird dieses Bild bestätigt. Seldschuken werden beispielsweise als „Barbarenvolk“ dargestellt – die gleichen Seldschuken, also die Vorreiter Anatoliens, die den Osmanen prächtige Städte, Bauten und eine Hochkultur überließen. Natürlich gab es Turkmenen, wie zum Beispiel die „Yörükler“, die auch in diesem türkischen Reich ihre Nomadenkultur bewahrten. Jedoch war die Nachbarschaftskultur bzw. die Kiezkultur der Osmanen so fortgeschritten, dass diese womöglich sogar heute noch als Vorbild dienen könnte.

Lichthöfe und Türklinken

Die englische Schriftstellerin und Wandrerin Julia Pardoe meinte einmal über die osmanischen Lichthöfe: „Hätte Shakespeare doch diese Lichthöfe gesehen, bevor er die Hofszene von Romeo und Julia schrieb!“ Tatsächlich dienten diese Lichthöfe nicht nur der Entspannung in einer Familie. Die osmanische Frau hatte hier größtenteils ihren Freiraum. Sie besaß meist ein eigenes Teppichatelier oder auch Obstbäume, wenn genügend Platz vorhanden war. Mit den Nachbarn traf man sich auch in diesen Lichthöfen.

Eine alte Tür in Bursa. (A. Akgül)

Selbst für die Türklinke hatten die Osmanen ein Feingefühl. An jeder Tür waren zwei davon. Von der einen Klinke kam ein tiefer Ton (für Männer) und von der anderen ein hoher Ton (für Frauen). So konnte man schon vorher feststellen, welches Geschlecht der Gast hat.

Die Kiezkultur und die Verwaltungseinheiten

Die Kieze waren so gesehen die kleinsten Verwaltungseinheiten des Staates. Um die Hierarchie in einfacher Weise zu demonstrieren, können wir alle Verwaltungseinheiten von Makro bis Mikro zusammenfassen: Ganz oben kam der Vali (Gouverneur), der für die Provinzen zuständig war. Diese Provinzen wurden in „Sancaks“ (Sandschaks) unterteilt, für welche jeweils die „Sancakbeys“ bzw. „Mütesarrıfs“ verantwortlich waren. Die Sandschaks wiederum waren in Kazas unterteilt. Diese entsprechen den Unterämtern, Kommunen oder Bezirken. Schließlich kamen ganz unten die Dörfer oder Städteviertel, also die Kieze.

In diesen Kiezen gründete man die sogenannten „Avarız Vakfı“: Stiftungen, die sozialen Zwecken dienten. Mithilfe dieser Stiftungen, welche vor Ort von den Bewohnern des Kiezes gegründet wurden, erhielten zum Beispiel die  Ärmeren, Heiratswilligen oder Kranken Hilfeleistungen. Selbst für die Restaurierung der Schulen oder der Moscheen stellte man seitens dieser Stiftungen Fondsmittel zur Verfügung. Darüber hinaus wurden auch die Gehälter der Imame oder Lehrer, die in den Kiezen tätig waren, finanziert.

„Wer satt schläft, während sein Nachbar hungert, ist nicht einer von uns“

Auch Almosen gab man meist innerhalb des eigenen Stadtviertels. Es wurde dabei keine religiöse oder ethnische Differenzierung vorgenommen. Beispielsweise war es damals eine populäre Methode wohlhabenderer Bürger, in einer Verkleidung unterzutauchen und durch verschiedene Kieze zu gehen, um hier die Schulden ihnen unbekannter Menschen zu bezahlen. Meistens wurden die Schulden dieser Menschen von den jeweiligen Obsthändlern, Fleischereien oder Verkäufern in einem „Zimem (Veresiye) Defteri“ (Schuldenheft) festgehalten. Der wohltätige Bürger ließ dieses Heft rausnehmen, bezahlte nach dem Zufallsprinzip Schulden und bat darum, unerkannt zu bleiben.

Somit vermied man eine direkte Konfrontation, damit der „Gebende“ nicht ein Mal minimal mit seiner Tat prahlen und damit der „Nehmer“ nicht beschämt werden konnte. „Wer satt schläft, während sein Nachbar hungert, ist nicht einer von uns“ – diese Überlieferung des Propheten Muhammed (sav.) wurde vom osmanischen Bürger wortwörtlich wahrgenommen.