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Politik

Die Türkei muss für einen Krieg mit den Nachbarn gerüstet sein

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Seit der Syrienkrise wird befürchtet, dass die Türkei in einen Krieg eintreten könnte. Wer würde diesen Krieg gewinnen? Ist der Iran oder doch eher Israel gefährlich für die Türkei? Und wie sehr kann sie sich auf ihre Bündnispartner verlassen?

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Die Türkei muss für einen Krieg mit den Nachbarn gerüstet sein
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ANALYSE/INTERVIEW Der türkisch-amerikanische Politikwissenschaftler Murat Birsel beschäftigt sich kraft seiner Tätigkeit mit Fragen, denen andere mit guten Gründen aus dem Weg zu gehen versuchen. So auch kürzlich, als „Aksiyon“ auf der Suche nach einem Experten für eine Frage war, die viele Menschen in der Türkei unterschwellig stärker beschäftigt, als sie es sich wünschen würden. Sie lautet: „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit eines Krieges für die Türkei?“

Birsel gilt als einer der Experten, was Geheimdienste oder geheime Diplomatie in internationalen Beziehungen betrifft. Darüber hinaus hat er in den 80er-Jahren jedoch als einziger türkischer Wissenschaftler in den USA sein Masterdiplom mit einer Arbeit zum Themenbereich „Wahrscheinlichkeiten eines Krieges“ gemacht. Seine Diplomarbeit, in der es um die Wahrscheinlichkeiten eines Krieges zwischen der Türkei und Griechenland ging und welche er unter Entwicklung einer eigenen Wahrscheinlichkeitsformel geschrieben hatte, wurde in der University of North Texas hoch geschätzt. Bevor er sein Masterstudium beendete, war er zur Assistenz angenommen worden. Seine Arbeit wurde in den Bücherbestand der Bibliothek des amerikanischen Kongresses aufgenommen. Auch wenn Birsel nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten (1987) eher durch seine Essays über alltägliche Themen auffiel, ist er vom Themenbereich „Wahrscheinlichkeiten eines Krieges“ nie abgekommen.

An der Technischen Universität des Mittleren Ostens (ODTÜ) in Ankara hat Birsel in den Themen Kriegstheorien und -modelle unterrichtet und Artikel für zahlreiche Denkfabriken geschrieben. Seine außergewöhnliche Diplomarbeit hat ihm auch während seines Wehrdienstes weitergeholfen. Auf diese Weise konnte er seinen Dienst im Amt für allgemeine Pläne und Prinzipien des Stabschefs als Projektoffizier (Reserveoffizier) ableisten. Mit Offizieren, welche „reichlich Sterne“ hatten, konnte er Gespräche über die Wahrscheinlichkeiten eines Krieges und über geheime Operationen führen – so gesehen hat er sogar die Anwendung seiner Theorie live erleben können.

Birsel (53) betont gleich zu Beginn, dass Kriegsszenarien – welche sowohl in die Berichterstattung regulärer türkischer Zeitungen als auch zum Teil in diverse Verschwörungstheorien eingeflossen sind – in westlichen Hauptstädten einen Zweig der Wissenschaft darstellen, auf den man sich ausschließlich mit Exaktheit fokussiert. Er erinnert daran, dass in den Armeen und Geheimdiensten eigene Einrichtungen bestehen, die sich der Doktor-und Masterstudiengänge der Universitäten annehmen und sich unter anderem auch mit den Wahrscheinlichkeiten eines Krieges befassen. Angesichts der Dynamik von Entwicklungen werden mittlerweile nicht mehr nur die Wahrscheinlichkeiten eines Krieges mit einem Feind-, sondern auch mit einem Freundesstaat in Berichten analysiert: „Von diesem Punkt aus betrachtet erkennt man, dass die Türkei in diesem Bereich nicht weit genug fortgeschritten ist. Die Tatsache, dass sie auf den frischen Wind durch den Arabischen Frühling unvorbereitet und in dieser Phase „Überraschungen“ ausgesetzt war, kann dazu führen, dass in Ankara künftig Wahrscheinlichkeiten mit Blick auf ein noch breiteres Spektrum in Betracht gezogen und berechnet werden, um aus diesem Chaos mit einer Erfahrung herauskommen zu können, die für die Zukunft lehrreich ist…“

Iran und Russland wollen Mittleren Osten nicht der Türkei überlassen

Birsel führt aus, dass kluge Staaten keinen Überraschungsangriff unternehmen, ohne zuvor alle Möglichkeiten auf wissenschaftlicher Basis erörtert oder ihre Schritte im Rahmen einer Kapazitäts-/Aktionsgleichung vorausanalysiert zu haben. Die Phase des Arabischen Frühlings habe der Türkei eine Möglichkeit gegeben, ihre Kapazität-Aktion zu testen, so Birsel: „Am Vorabend des Arabischen Frühlings hat die Türkei einige Überraschungen erlebt. Sie wurde mit nicht voraussehbaren Geschehnissen konfrontiert, während sie eigentlich im Voraus jede Wahrscheinlichkeit studiert und die nötige Lösung gefunden haben müsste. Es ist nötig, dass in der Entscheidungsphase eine zivil-militärische Zusammenarbeit herrscht; dass im Rahmen der Berichte, welche von den Denkfabriken kommen, die Probleme bis ins kleinste Detail studiert werden und dass den Entscheidungsträgern schließlich jegliche Wahrscheinlichkeiten aufgezeigt werden. Sogar ein Plan „Z“ wird auf den Tisch gelegt. Somit erlebt man keine Überraschung! Wer dann noch auf einen Überraschungseffekt spekuliert, erlebt selbst eine unliebsame. Die allgemeine Philosophie lautet – auch wenn gesiegt wird – Verlustkontrolle. Natürlich müssen dazu Experten auf allen Gebieten, Geheimdienste und Denkfabriken von hoher Qualität aktiv sein. Mit der Krise in Syrien wurde die Türkei einmal mehr auf dem Feld getestet. Sie hat so wichtige Lektionen enthalten, dass ein signifikanter Anstieg im Budget der Geheimdienste stattgefunden hat.“

Murat Birsel betont, dass der Iran und auch Russland den Mittleren Osten – der durch den Arabischen Frühling neu gestaltet wird – nicht der Türkei überlassen wollen. Auch anhand des Angriffes auf das türkische Schiff „Mavi Marmara“ und einen türkischen Jet wäre dies zu erkennen. Birsel glaubt, dass die großen „Mannschaften“ in der Region ihre „Hooligans“ bewusst auf die Türkei losgeschickt haben: „Vor einigen Jahren wurde im Rahmen einer Plattform noch die These vom „Ende des Nationalstaates“ erörtert. Die Geschehnisse in letzter Zeit haben der Türkei eher die Rückkehr und Stärkung des Nationalstaates mit einer weniger stark polarisierten Weltordnung vor Augen treten lassen. Heute schicken die großen „Mannschaften“, die USA, China und Russland, ihre „Hooligans“ vor. Sobald heute die Türkei unabhängig von ihrer Kapazität und Achse mit selbständigen politischen Schritten beginnt, könnte sie mit unerwarteten Überraschungen konfrontiert werden. Ein möglicher Stolperstein ist z. B. die erneut gestärkte PKK.“ Er unterstreicht, dass ein bewusstes Spiel gespielt werde: „Sie wollen die Türkei reizen und zu impulsivem Handeln veranlassen. Bis jetzt hat sie jedoch standgehalten. Obgleich eine Freund- und Feind-Sortierung stattgefunden hat, wenn das türkische Volk nicht das Sieger-Gen („Wir werden den Feind letztendlich und mit Gottes Beistand gewiss besiegen“) besäße, würden die Geschehnisse dem Volk auch den letzten Nerv rauben.

Eigenständige Politik der Türkei fordert Großmächte heraus

„Gibt es eine Wahrscheinlichkeit, dass die Türkei mit ihren Nachbarstaaten einen Krieg führen wird?“ – „Nein“ konnte Birsel schlecht sagen… Stattdessen kam ein „Ich befürchte sogar“: „Durch den Arabischen Frühling hat sich auch für die Türkei im Mittleren Osten ein systematischer Wandel vollzogen. Für sie hat also eine schwierige Aufgabe begonnen. Der systematische Wandel umfasst auch die Übernahme der Kontrolle über Syrien durch Russland. Im Hinterhof Russlands und des Iran soll also nun ein Gewächshaus der Demokratie aufgebaut werden. Das Modell ist die Türkei, doch deren Bedingungen können nicht importiert werden. Es bleibt nur die Hoffnung darauf, dass ein Klima entsteht, in dem sie keimen kann. Dann gibt es noch den Staat Israel mit dem Wunsch, die Region möge immer warm bleiben und die Kastanien nicht kalt werden. Wenn in Palästina Popcorn gemacht wird, reagiert man darauf mit Raketen. Würde hingegen die Türkei in der gleichen Weise verfahren, würde es einen Weltuntergang geben.“

Es entstehe eine Situation, ähnlich, als würden sich Eltern auf dem Schulflur einer Oberschule sich in den Streit ihrer Kinder einmischen. „Da gibt es freche Kinder, welche sogar die Eltern treten. Da der Vater (USA) dieser frechen Kinder (Israel) der Schule die größte Spende gemacht hat, ignoriert der Schulrektor jedoch diesen Vorfall. Eine ähnliche Situation herrscht an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien. Granaten werden abgeworfen, die türkische Militärmaschine stürzt vom Himmel. Es wird von der Türkei erwartet, dass sie das Regime in Damaskus mittels eines Krieges stürzt. Es wird die Nachricht übermittelt „Wenn du nicht kämpfen wirst, dann hör auf, herumzuprahlen.“ Natürlich ist das eine Provokation, doch wenn sich im Umfeld der Türkei ein Regimewechsel vollziehen soll, müsste man auf einen möglichen Krieg auch vorbereitet sein. Und wenn man nicht vorbereitet ist, sollte man sich, bis man bereit ist, auch mit der Behauptung, das System ändern zu wollen, zurückhalten.“ Ansonsten würde die Türkei selbst im Falle eines erfolgreichen Feldzuges am Ende möglicherweise doch noch als Verlierer dastehen.

Birsel fügt hinzu, dass man sich eigentlich von Russland und dem Iran fern halten müsse. Er verteidigt die These, dass man den Streit mit diesen zwei Nachbarn, welche Nuklearwaffen, Energiekarten, effektive Geheimdienste und strategische Tiefe besitzen, vermeiden sollte: „Mit dem Iran kann man nicht scherzen. Auch nicht mit Russland. Beide Staaten ziehen aus der Türkei wichtigen Nutzen und lebenswichtige Gewinne. Außerdem steht hinter ihnen das riesige China. Die Türkei ist wie ein frisch aus seinem Bett aufgesprungener, Energie zeigender, junger Mann, der voller Tatendrang steckt. Das Land muss seine Militärkapazität und seinen Geheimdienst aber leise stärken. Zum Beispiel müssen die Geheimdiensteinheiten – genau wie es bei ihren fähigen Feinden der Fall ist – eine Ausrüstung besitzen, welche die Haltung der Führer und Entscheidungsträger in der Region gegenüber allen aktuellen Ereignissen im Voraus erkennen. Soft power (weiche Macht) ist natürlich wichtig, doch ohne Hard power (Militärmacht) bringt sie nichts. Ebenso ist die türkische Wirtschaft nicht ausreichend stark. Kurz gesagt, ohne eine richtige ‚Ausreifung‘ sollte man sich nicht in den Mittelpunkt werfen. Denn wenn man Worten keine Taten folgen lässt, verliert man das Ansehen. Ohne gelernt zu haben, sollte man nicht in die Prüfung! Realpolitik bedeutet, dass man bereits im Vorfeld Maßnahmen trifft, um somit für unangenehme Situationen gewappnet zu sein.“

Es kann sein, dass die NATO und die USA nicht zur Hilfe kommen

Besteht die Möglichkeit eines Krieges zwischen der Türkei und Israel. Birsel betont, dass in dieser Situation, trotzt der positiven Atmosphäre gegenüber Obama, Washington am Ende Tel Aviv schützen würde: „Israel ist ein starker Staat. Doch kein Spieler. Sollte die Türkei je an den Rand eines Krieges mit Israel kommen, würde Washington hindernd eingreifen. Es möchte beide Staaten nicht verlieren. Jedoch herrscht auch so die Situation, dass Israel als der Vorposten der USA gilt. Wenn zum Beispiel das neue Syrien unter Mithilfe durch die USA gegründet werden sollte, bekommt nicht die Türkei, sondern Tel Aviv die effektive Mitsprache in Damaskus.“

Hier unterstreicht Birsel einen wichtigen Punkt: „Im Iran, in Israel und bei den nicht selten von christlich-fundamentalistischen Millenaristen beeinflussten amerikanischen Neocons gibt es die Messias-Erwartung. Damit der Messias kommen kann, muss auf der Erde die große Zerstörung einkehren, ein großer Krieg stattfinden. Somit schrecken der Iran und Israel nicht einmal mit Blick auf einen möglichen Ausbruch des Dritten Weltkriegs im Mittleren Osten zurück. In diesem Zusammenhang muss auch die Möglichkeit verdeckter Operationen durch bezahlte Söldner beachtet werden. Wer meint, ich übertreibe, der sollte sich mit Madeline Albright befassen!“

Den Angriff auf die „Mavi Marmara“ und den beschossenen Jet betrachtet Murat Birsel aus dem gleichen Blickwinkel. Das Ziel sei es, das Gleichgewicht in der Türkei zu stören, die derzeitigen Eliten zu stürzen: „Wenn die Türkei aus dem Gleichgewicht gerät, stürzen sich alle, Syrien, Israel, Irak, Iran und Russland auf sie – weil die Stärkung der Türkei in der Region sie einengt. Mit Syrien und Irak kann sie fertig werden, doch ein Armdrücken mit Israel, Russland, Iran würde sehr schwer werden. Im Falle eines Zusammenstoßes der Türkei mit Russland würden sich die USA, der Westen, China und der Iran einmischen. Der Dritte Weltkrieg würde ausbrechen. Die Türkei muss um jeden Preis China auf seine Seite ziehen können. Daher sollte sie sich um ein gutes Verhältnis zu China bemühen.“

In solchen Kriegssituationen könne man üblicherweise Allianzen und Alliierten vertrauen, behauptet Birsel. Die Erinnerung Erdoğans an die Bündnispflichten der NATO und der USA sieht er als einen „Test“ an. Er betont, dass wenn die Türkei mal in der Klemme wäre, die NATO und die USA nicht zu Hilfe kommen würden. Die gemäßigte Haltung Ankaras dem Iran gegenüber mache einige ehemalige Verbündete nervös: „Während einige drohen, den Iran zurechtzuweisen, küssen die türkischen Diplomaten ihre iranischen Ansprechpartner mindestens drei Mal auf die Wangen. Die dabei geschossenen Fotos werden eines Tages noch auf die Türkei zurückfallen. 1989 hatten zum Beispiel die Deutschen gesagt, für die Türkei würde man nicht in den Krieg ziehen. Wäre die Türkei heute in einem Krieg, würden Deutschland, Frankreich wieder nicht zur Hilfe kommen.“

Keine Freundschaftsspiele mit dem Iran mehr möglich

Mit dem Einsatz eines NATO-Radars in Kürecik habe sich die integrierte Gleichung in der Region jedoch verändert, behauptet Birsel. Der Iran und Russland würden diesen Schritt nicht leicht verdauen können. Er erinnert an die PKK-Unterstützung, die iranischen Agenten, welche im Osten gefangen wurden und er geht davon aus, dass Teheran genauer beobachtet werden müsse: „Das NATO-Radar hat Irans Luftverteidigungs-und Angriffssystem beeinflusst. Und zwar auf eine sehr störende Art und Weise. Russland befindet sich in der gleichen Situation. Ein Aspekt der Unterstützung Assads basiert hierauf. Der empfindliche Punkt hier ist es, dass Teheran nicht in die Enge getrieben werden darf, wie es bei Assad gemacht wurde. Wenn sie in die Enge getrieben sind, werden sie jedenfalls angreifen. Jeder Schritt des Iran muss genau beobachtet werden. Die Türkei muss nun einsehen, dass sie mit dem Iran keine Freundschaftsspiele mehr austragen kann.“