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Politik

„Ist das kein deutsches Leben, Herr Gabriel?“

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In einem offenen Brief übt Schriftstellerin Jagoda Marinić Kritik an der halbherzigen Politik der SPD mit Blick auf die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft. Die SPD verkaufe eine Regelung als Erfolg, die tatsächlich keiner sei. (Foto: dpa)

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Sigmar Gabriel, Bundeswirtschaftsminister und SPD-Bundesvorsitzender, kommt am 07.04.2014 in Berlin zur Sitzung des SPD-Präsidiums.
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Jagoda Marinić wurde 1977 als Tochter kroatischer Einwanderer in Waiblingen geboren. Ihre Eltern stammen aus Dalmatien.

Sie hatte Germanistik, Politikwissenschaft und Anglistik an der Universität Heidelberg studiert und  2001 ihr erstes Buch mit Erzählungen unter dem Titel „Eigentlich ein Heiratsantrag“ veröffentlicht. Für ihren 2005 erschienenen Erzählband „Russische Bücher“ erhielt sie den Grimmelshausen-Förderpreis. Seit 2012 leitet sie das „Interkulturelle Zentrum in Gründung“ in Heidelberg.

In einem offenen Brief an Sigmar Gabriel kritisiert sie die Selbstzufriedenheit, mit der die SPD sich selbst für die Neuregelung zur doppelten Staatsbürgerschaft feiert, ohne jedoch zu realisieren, dass sie eine Chance, Einwanderer aus einer Identitätsfalle herauszuholen, vertan hat.

Neben weiteren deutschen Medienorganen dokumentiert auch das DTJ das Schreiben:

Sehr geehrter Sigmar Gabriel, ich schreibe Ihnen, weil Sie, wie kein anderer, derzeit die SPD verkörpern. Der Zufall wollte es: Sie waren der Erste, dem ich meinen Roman „Restaurant Dalmatia“ signiert habe. Zufall? Ich hatte einen Roman geschrieben, mit dem ich die Geschichte einer Einwandererfamilie aus der Unsichtbarkeit heben wollte. Oder besser: Ins Sichtfeld auch jener, die sie bislang übersehen haben. Das Buch ist auf seiner letzten Seite meinem Vater gewidmet. Er ist der Mensch, der nach Deutschland kam. Nicht ich. Er ist der Mensch, der hier nur Arbeit gesucht hat. Ein Einwanderer, der noch nie wählen durfte – und doch bis zur Agenda 2010 über die SPD sprach, als wäre es seine Partei. Ein Dasein als ausländischer Arbeiter übersetzt sich politisch oft in: Die SPD kämpft auch für mich.

Buchpremiere im Literaturhaus Stuttgart. Es war der 10. September letzten Jahres. Noch vor der Lesung legte mir eine Dame, die mittags ein Interview im Radio gehört hatte, das erste Exemplar zum Signieren vor. „Für Sigmar Gabriel“, sagt sie. Ich sehe sie fragend an. „Ja, der! Wir haben diese Woche eine Veranstaltung mit ihm. Er hat Geburtstag, das passt!“ Ich hatte im Radio gesagt, mit dieser Familiengeschichte wollte ich die europäische Dimension der deutschen Einwanderung erzählen, die aus dem Gastarbeiterbegriff nicht herauszulesen ist. Ich schrieb also auf die erste Seite des Buches „Sigmar Gabriel“. Auf der letzten Seite steht der Name meines Vaters. Ihren Namen auf Seite eins zu setzen, das las ich als Zeichen. Ja, es ist Zeit, dachte ich, die Politik wird endlich auch das Leben der Einwanderer sehen.

Ihre Partei hat die bundesrepublikanische Integrationspolitik nun fest in der Hand: Im Norden die Integrationsbeauftragte Frau Özoğuz, im Süden Landesministerin Öney. Vor den Wahlen hat die SPD Versprechungen zum Doppelpass gemacht. Ach, dieser Doppelpass. All das Getue um ein zweites Dokument, das über 300 Tage im Jahr in der Schublade liegt, nicht? Doch die Frage, ob es da liegt oder nicht, gibt zahllosen Menschen das Gefühl, Teil dieses Landes zu sein oder eben nicht.

Jetzt verkauft uns die Große-Koalition-SPD einen integrationspolitischen Erfolg, der keiner ist. Er ist nicht deshalb keiner, weil die Doppelpass-Regelung ein Bürokratiemonster und noch auszubessern ist. Es ist deshalb keiner, weil die SPD mit dieser Politik dazu beiträgt, die Vergangenheit und mit ihr die Realität zu leugnen. Gerade die Bundesrepublik Deutschland, die weltweit für ihr Gedenken und Erinnern Vorbild ist, kann nur selektiv gedenken und erinnern, scheint es. Oder wie sonst ist zu erklären, dass bei den Doppelpass-Koalitionsgesprächen eine andere Gruppe nicht auch im Zentrum stand: Die Einwanderer.

Elterngeneration wurde völlig vergessen

Nein, Ihre neue Doppelpassregelung ist kein Erfolg. Sie ist das Mindeste. Sie ist genau genommen nicht mehr als ein selbsttherapeutischer Akt, ohne den Deutschland schizophren werden müsste in Anbetracht der Kluft zwischen Realität und Politik in diesem Land. Dieses Mindeste ist das Ende einer jahrzehntelangen beschämenden Verneinungspolitik, die junge Deutsche eines Heimatgefühls beraubt. Und dann fragt man uns, warum wir es uns so schwer machen mit der Heimat.

Der aktuelle Konsens ist eine kleine Anpassung an die Realität. Mehr nicht. Integriert werden muss jedoch der Kern der Einwanderungsgeschichte, die Frage: Wie sind diese jungen Menschen, die nun keine Optionspflicht mehr haben, Teil von Deutschland geworden? Integrationspolitik, Debatten über Staatsangehörigkeit und nicht ein gewichtiges Kapitel über die eigentlichen Einwanderer im Koalitionsvertrag? Ein solches Glanzstück schafft nur das „Einwanderungsland Deutschland“! Nicht einmal meine Generation wurde ernsthaft bedacht.

Konsens-Schweigen über die stille Generation, die jetzt in Rente geht oder vor kurzem ging. Dekaden leben und arbeiten in Deutschland – ist das kein deutsches Leben, Herr Gabriel? Ganz gleich, welcher andere Pass noch in der Schublade liegt? Integration, das müsste hierzulande die Fähigkeit der deutschen Gesellschaft meinen, die Wirklichkeit um sie herum anzuerkennen. Hätte man bei den Eltern angesetzt, bei den Einwanderern also, dann wäre den jungen Menschen, über die gestritten wurde, der Pass automatisch zugekommen, weil sie Eltern mit deutschem Pass hätten. Doch die SPD hat die Chance vertan, aus Gastarbeitern Staatsbürger zu machen.

Die SPD, der Anker

Für viele Gastarbeiter war die SPD der Anker. Einwanderer wie mein Vater saßen jahrzehntelang vor den Nachrichten und dachten: Diese SPD kämpft auch für mich. Sie definierten sich politisch nur als Arbeiter, das hat die Vergastarbeiterisierung von Menschen erreicht. Darin war diese Liebe zur SPD erlösend wie tragisch. Erlösend, weil die SPD jenseits des Passes ihre Arbeiterrechte wahrnahm, tragisch, weil es dabei blieb. Bis heute. Die Illusion, eine Partei, die sozialpolitisch denkt, würde für sie als Arbeiter schon Sorge tragen, ganz gleich welchen Pass sie haben, stirbt spätestens im Alter.

Sozialpolitik für Einwanderer stellt neben der sozialen Frage noch weitere. Das Selbstbewusstsein, diese Fragen zu stellen, hat meine Elterngeneration nicht.

Es gibt viele, die Ihnen Statistiken vorlegen. Zahlen zum Beispiel, die zeigen, welche Krankheiten Arbeiter im Alter erwarten. Die meisten integrationspolitischen Probleme sind sozialpolitische, aber sie erhalten bei Einwanderern zusätzliche Dimensionen. Zudem betreffen in Deutschland sozialpolitische Probleme gehäuft Migranten, was ein integrationspolitisches Problem ist. Daher ist Ihre Partei, so sie sozialpolitisch sein will, für diese Gruppe, und gerade für die erste Gruppe Einwanderer, zuständig.

Ich nenne keine Zahlen. Ich habe ein Buch vorgelegt. Es war Wahlkampfzeit, als man es Ihnen „zufällig“ zum Geburtstag schenkte. Vielleicht hatten Sie keine Zeit zu lesen. Ich wünsche mir, dass Sie es jetzt lesen, bevor über den Gesetzesentwurf entschieden wird, um in Erzählungen die Träume und Risse zu sehen, die sich durch Einwandererfamilien ziehen. Wie schwierig es ist, über Generationen hinweg zusammenzuhalten. Familienpolitik, ist das nicht auch so ein Ding der SPD? Und trotzdem stellen Sie und Ihre Beauftragten sich vor diese Nation und sagen allen Ernstes den Familien, die eingewandert sind: Der Doppelpass für alle unter einundzwanzig ist ein integrationspolitischer Erfolg der SPD.