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DTJ-Blog

„Du gehörst zu Deutschland, mein Junge“

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Deutschland, Achmed, Flüchtlingsheim, Fußball
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Die Uhr schlug mittags 1. Er richtete sich von dem historischen Roman auf, in dem er las und schaute in seinem spärlich eingerichteten Wohnzimmer auf den Wandkalender. Noch gut zwei Monate, dann sollte endlich wieder der Ball rollen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Fußball-EM traten in diesem Sommer in Frankreich gleich 24 Länder an, um die begehrte Trophäe in den Händen halten zu können.

Ahmed war seit Kindesbeinen an ein eingefleischter BVB-Fan und spielte selbst in der Bezirksliga. Er war froh, dass er dieses Jahr sich mit Fußball satt sehen durfte. Im Aufgebot der Nationalelf standen acht BVB-Stars und Ahmed wünschte sich, dass alle von „Jogi“ Löw in den EM-Kader aufgenommen werden würden. Denn nur mit seinen „schwarz-gelben“ Burschen könne Deutschland seinen vierten EM-Titel holen, glaubte Ahmed.

Zum ersten Mal war die EM vor 56 Jahren damals wieder in Frankreich ausgetragen worden. Im Internet überflog er die Statistiken zu dem größten Fußballevent Europas und entdeckte, dass die Franzosen auch noch 1984 Gastgeberland waren. Während die „Blauen“ zweimal als glücklicher Sieger das Ziel erreicht hatten, trugen dagegen die Deutschen die meisten Früchte davon. Dreimal gingen sie als Sieger vom Platz, wobei sie sechs Mal das Endspiel und dazu acht Mal das Halbfinale erreicht hatten.

Doch Arithmetik spielte für Ahmed im Fußball nur eine nebensächliche Rolle. Die Emotionen waren wichtiger und auf die kam es letztendlich an. Freude, Euphorie, aber auch Leid und Kummer prägten schließlich, wie in allen Sportarten, das Bild dieses beliebten Weltsports.

Ahmed ging ins Schlafzimmer und stellte sich vor dem Spiegel auf, um sich anzuziehen. Er strich mit der Hand über seine pechschwarzen Haare. Seine schlanke Figur war sehr gut geeignet für einen Sportler. Dreimal die Woche trainierte er im Fußballverein. Fußball war einfach seine Welt. Abgesehen von seinem Studium, das er vor einem Jahr aufgenommen hatte.

Die innere Verbundenheit zu Deutschland zeigte sich bei Ahmed in Zeiten solcher internationalen sportlichen Wettbewerbe noch mehr. Schließlich war er hier geboren und aufgewachsen. Er sprach fließend Deutsch, obwohl er seine türkische Identität nie verloren hatte. Er nahm sich vor, eine Bundesflagge und eine türkische Flagge für sein Auto zu kaufen. Auf die eine Seite sollte „Schwarz-Rot-Gold“ und auf die andere der Halbmond mit dem Stern gehisst werden. Wenn er auf den Straßen fuhr, sollte jeder sehen, für wen sein Herz schlug.

Wie jeder Mensch besaß auch er ein Herz. Doch dieses Herz schlug für zwei Länder. Dieses Gefühl sollte er nach 1996 und 2008 zum dritten Mal bei einer EM erleben. Wie gut, dass seine beiden Mannschaften nicht in der Gruppenphase aufeinander trafen. Wenigstens konnten so beide die K.O.-Runde erreichen. Vielleicht spielten sie ja im Finale gegeneinander, wer weiß. Das wünschte sich Ahmed am meisten. Zu wem er dann halten würde, wusste er noch nicht. Es waren gemischte Gefühle, die ihn aufwühlten.

Wenn es denn soweit kommen sollte, wollte er einen Abend bei sich in der Studentenwohnung planen. Seine türkischen und deutschen Freunde sollten alle eingeladen werden. Sein Wohnzimmer sähe dann bestimmt aus wie die Südtribüne des Signal-Iduna-Parks. Zu reichlicher Schokolade und Chips sollte an diesem Abend türkischer Tee gereicht werden. Keine Cola. Keine Fanta. Jeder sollte Tee trinken. Schließlich konnte die berüchtigte „türkische Gastfreundschaft“ nicht ohne türkischen Tee an den Mann gebracht werden.

Er sammelte seine Gedanken wieder und ließ seine Blicke aus dem Fenster über den Passanten auf der Straße schweifen. Er wohnte auf einer verkehrsintensiven Straße. Bis zur EM waren es noch gut zwei Monate. Bevor der Ball in Frankreich rollte, musste er noch so einiges erledigen. Er studierte Betriebswirtswirtschaft und hatte noch bis Sommer wichtige drei Klausuren, für die er hart „pauken“ musste. Wie verständnisvoll war es von der Prüfungskommission geplant, dass die letzte der drei Klausuren einen Tag vor dem Eröffnungsspiel in Saint-Denis stattfand. Ohne Prüfungsstress konnte er den Fußball im Fernsehen regelrecht genießen.

Ahmed beeilte sich, damit er nicht verspätet zur ersten Vorlesung am Nachmittag um 14:00 Uhr erschien. Er schlüpfte schnell in seine blaue Jeanshose und streifte seinen grauen Sweatshirt über. Seinen knurrenden Magen wollte er noch schnell in der Uni-Kantine stillen, bevor er die Vorlesung besuchte. Er frühstückte aus Prinzip immer in den frühen Morgenstunden und hörte am Mittag seinen Magen, wie er ihn mit komischen Geräuschen anflehte. Bis zur Haltestelle brauchte er nicht lange. Unmittelbar vor seiner Haustür hielten die öffentlichen Verkehrsmittel an, die ihn zur Uni fuhren.

Als er an der Haltestelle ankam, übermannte ihn ein Anflug von Verzweiflung. Das Wahlplakat einer rechtspopulistischen Partei rief die deutschen Bürger auf, sich bei den kommenden Kommunalwahlen „patriotisch“ zu verhalten und ihre Stimmen „verantwortungsbewusst“ abzugeben. „Unser Vaterland“ sei kein „Flüchtlingsheim“ und alles, was nicht Deutsch sei, habe hierzulande nichts zu suchen. Eine Ausgrenzung auf die übelste, faschistische Art, dachte er sich. Die Verzweiflung wich einem Zorn, der in seinen Augen loderte.

Er sortierte anschließend seine Gedanken, in die er vor einigen Minuten versunken gewesen war: Die „schwarz-rot-goldene“ Flagge, die er auf seinem Auto anbringen wollte. Das Land, dem er die eine Hälfte seines Herzens geschenkt hatte. Seine deutschen Freunde, die er im Falle eines Finaleinzugs seiner beiden Mannschaften zum türkischen Tee einladen wollte und sein BVB, dem er in dieser Saison die Meisterschaftsschale gegönnt hatte. War das alles nicht ein Teil seines Lebens? Waren das alles Tagträume, denen er sich nur hingegeben hatte? War er doch nicht ein Teil Deutschlands? Was war mit der inneren Verbundenheit, die ihn zu einem „Halbdeutschen“ werden ließ?

Entweder täuschten ihn seine Gedanken und Gefühle oder das Werbeplakat gehörte nicht zu Deutschland. Als der Bus vor seiner Nase anhielt und die Tür aufging, schnellte er mit einem Satz in den Bus und murmelte geistesabwesend etwas. Die Menschen in seiner Nähe blickten alle zu ihm. Ein korpulenter Fahrgast mittleren Alters, der neben Ahmed stand und sich nach einem freien Platz in dem überfüllten Bus umschaute, klammerte sich an einen Haltegriff mit der einen Hand. Er klopfte dann mit der anderen Hand Ahmed auf die Schulter. Der Mann erwiderte schnaufend Ahmeds halblauten Gedanken, den dieser soeben von sich gegeben hatte. Es hörte sich mehr nach Kauderwelsch als Deutsch an. Der Mann hatte einen starken schwäbischen Akzent:

„Du bist bei uns willkommen, Junge. Als Schwabe fühle ich mich in der Eifel auch manchmal wie ein Ausländer. Du gehörst ganz bestimmt zu uns. Wie jeder andere gehörst auch Du zu Deutschland.“


Foto: dpa