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Politik

Ein Appell an Integrationsverweigerer ohne Migrationshintergrund

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Annette Treibel appelliert in ihrem neuen Buch an alle Mitglieder der Gesellschaft, sich in Deutschland zu integrieren. Nicht in das Deutschland, das Pegida will, sondern in das Deutschland, das ein Einwanderungsland ist.

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Im Leben ist nichts abgeschlossen. Alles befindet sich im Fluss. Deshalb sind endgültige Definitionen auch so schwierig.

Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Wer ist Deutscher? Gehören die Migranten dazu? Ab wann gehören sie dazu? Schafft sich Deutschland ab? Die Antwort auf all diese Fragen ist schwierig. Es kommt auf den Standpunkt an.

Es kommt vor, dass wir in Deutschland im öffentlich-rechtlichen Fernsehen abends zwei Nachrichtensprecherinnen sehen, die einen türkischen und einen griechischen Migrationshintergrund haben, nämlich Pınar Atalay und Linda Zervakis. Das gleiche Bild sieht man auch morgens im Morgenmagazin.

Andererseits versammeln sich in Dresden Pegida-Anhänger, die mit dieser Situation ihre Schwierigkeiten haben und deshalb gerne das Rad der Geschichte zurückdrehen würden. Für diese Leute ist dieses Deutschland etwas Fremdes. Das bisher Gewohnte geht verloren. Deshalb glauben sie, dass Deutschland dabei ist, sich abzuschaffen.

Wie bringt man die Puzzle-Teile zusammen, so dass wir wieder ein sinnvolles Bild vor uns haben?

Ein Buch über das tatsächliche Deutschland

Das neue Buch von Annette Treibel könnte da Abhilfe schaffen. Es ist im September im Capus-Verlag erschienen und trägt den Titel „Integriert Euch!“ Damit reiht es sich in die Tradition der Bücher ein, die mit Stephane Hessels „Empört Euch!“ begann, einen Imperativ im Titel trägt, vom Umfang her kurz ist und in der Regel zu einem wichtigen Thema das Wesentliche aussagt.

Durch den gelben Buchdeckel und den roten Titel zieht das Buch bei Buchhändlern die Aufmerksamkeit auf sich. Auf viele Leser ist der erste Eindruck wahrscheinlich so: Wohl wieder ein Buch über Integration. Ein Buch an Menschen mit Migrationshintergrund gerichtet, mit der Aufforderung, sich endlich zu integrieren.

Doch das Buch belehrt den voreingenommenen Leser eines Besseren. Annette Treibel schreibt nicht über ein Land, das bestimmte rechte Kreise im Kopf haben, sondern über das Land, das so ist, wie es eben ist. Sie redet nicht nur von Migranten mit Integrationsdefizit, sondern auch von Integrationsverweigerern ohne Migrationshintergrund.

Auch Alteingesessene sollen sich integrieren

So schreibt sie im Kapitel „Zwei Szenarien: Deutschland im Jahr 2035“ zum Thema Integration: „Integration ist für mich eine Aufgabe für alle, die in diesem Land leben, das ein Einwanderungsland geworden ist. Sie ist auch ein Projekt für alteingesessene Deutsche, nicht nur für Einwanderer.“

Das Buch enthält den Appell, der diesen Imperativ-im-Titel-Büchern eigen ist: „Üblicherweise wird Integration als etwas verstanden, was Einwanderer zu leisten haben. Dieses Buch bietet Materialien und Hinweise für eine neue Perspektive, die zugespitzt in den Appell mündet: Integriert Euch!  Ich wende mich vor allem an diejenigen Menschen deutscher Staatsangehörigkeit, die seit Generationen in Deutschland leben und die ich als Alte Deutsche bezeichne. Ausformuliert lautet der Appell: ’Integriert Euch Eurerseits in das Einwanderungsland, zu dem Deutschland geworden ist.“

Bei diesen Sätzen fühlt man sich zwangsläufig an Pegida-Demonstranten erinnert. An Demonstranten, die sich weigern, das neue Deutschland zu akzeptieren.

Das Buch behandelt verschiedene Aspekte des Einwanderungslandes Deutschland. Angefangen von der Frage an die Nachkommen der Einwanderer, woher sie eigentlich kommen über Mehrfachidentitäten und Loyalitäten und die Frage, warum Mesut Özil und Lukas Podolski die deutsche Nationalhymne nicht mitsingen, bis hin zu Einwanderern in der Politik und den Comedians mit Migrationshintergrund kommen verschiedene Themen vor.

Neue Deutsche werden nicht als „normale“ Deutsche gesehen

Dass sich Deutschland wandelt, dass vieles im Schwimmen ist und sich Neues entwickelt wird auch im vierten Kapitel deutlich. Es trägt den Titel „Deutsch kann man doch nicht werden! Über Alte und Neue Deutsche“, wobei mit Neuen Deutschen natürlich die Nachkommen der Migranten bezeichnet werden. Doch die Sache ist nicht so einfach.

Wie im Kapitel zur Sprache kommt, denken laut Umfragen 37 Prozent der Deutschen, dass deutsche Vorfahren für das Deutschsein wichtig sind. Für 40 Prozent ist ein akzentfreies Deutsch wichtig – ob sie selber hochdeutsch sprechen sei dahingestellt. Wiederum für 40 Prozent ist es schwierig, Muslime in das deutsche Wir zu integrieren. Das ist ungefähr die Hälfte der Bevölkerung. Das Glas ist sowohl halb voll als auch halb leer, je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtet.

Von daher ist auch die folgende Feststellung wichtig:

„Ich spreche hier von ’Alten Deutschen’ und von ’Neuen Deutschen’, ohne diese Begriffe selbst erfunden zu haben. Sie wurden von Wissenschaftlerinnen und Journalisten ins Spiel gebracht, die selbst Deutsche mit Migrationshintergrund sind. Denn sie hatten festgestellt, dass man als Deutschgewordene nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann: Offenbar besteht ein Bedarf nach einer eigenen Begrifflichkeit.“

Und weiter: „Neue Deutsche werden nicht – selbst wenn sie dies wollten – als ganz normale Deutsche angesehen; aber sie bewegen sich vom Ausländerdasein zum Deutschsein.“

Ein Buch für Alte und Neue Deutsche

Es ist auch die Rede von hybriden Identitäten, bei denen die Identitätsbestandteile auf besondere wiese angeeignet und transformiert werden. „Es entstehen kulturelle Neubildungen, die weder auf die Herkunfts-, noch auf die Aufnahmeländer zurückgeführt werden können.“

Während also die ’Neuen Deutschen’ nicht als normale Deutsche angesehen werden haben 20 Prozent der Bevölkerung selbst Migrationshintergrund. In der alten Bundesrepublik machte ihr Anteil sogar ein Drittel der Bevölkerung aus, das nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland kam.

Annette Treibels Buch könnte für junge Migranten nützliche Argumentationshilfen anbieten, die kein anderes Zuhause als hier in Deutschland haben und ihren Platz in der Gesellschaft suchen. Auch für die anderen, die sogenannten Integrationsverweigerer ohne Migrationshintergrund könnte sie Augen öffnen für neue Realitäten, Ängste nehmen und Zuversicht vermitteln, dass sich Deutschland nicht abschafft, sondern dabei ist, sich selbst neu zu erfinden – vorausgesetzt, sie lesen es.


Annette Treibel: Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland, Campus Verlag Frankfurt, 208 Seiten, 19,90 Euro.