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Kolumnen

Ein Großer. Zum Tode von Helmut Schmidt

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Helmut Schmidt war kein einfacher Chef. Für ihn zu arbeiten war phasenweise nur deswegen ertragbar, weil jeder wusste, dass er von sich am meisten abverlangte. Am schlimmsten war es vor Regierungserklärungen. Der Kanzler ging erst dann ernsthaft an den Text, wenn der Anlass unmittelbar bevorstand, also gegen 22 Uhr, genau 11 Stunden vor Redebeginn. Man hatte schon den ganzen Tag gearbeitet, also 12-13 Bürostunden hinter sich. Ab 23.00 Uhr kamen die ersten, mit grüner Tinte redigierten Seiten vom Kanzler zurück, gegen 3.30 waren die Redenschreiber und die Sekretärinnen fertig, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber dann konnte man noch nicht das Büro verlassen, es begann die Beschriftung und der Versand der Briefumschläge, die noch vor Redenbeginn einen ausgewählten Empfängerkreis von Regierung und Opposition zu erreichen hatten. Erst dann konnte ich nach Hause fahren, duschen, die Kleidung wechseln, kurz mit meiner Frau frühstücken, bevor es ins Bonner Bundeskanzleramt zurückging. Ein paar Dutzend Meter entfernt lag der Bundestag. Mit Redebeginn des Kanzlers gelangte ich durch eine Hintertür auf die letzte Reihe der Regierungsbank, wo nach kurzer Zeit die Texte der Parlamentsstenographen eintrafen. Ich hatte sie für den Kanzler vorzuredigieren. Gegen Mittag war ich fertig und wankte an meinen Schreibtisch zurück.

Helmut Schmidt hat als Kanzler keine Geschichte geschrieben. Adenauer steht für die Westbindung, Brandt für die Ostverträge, Kohl wurde der Vater der Wiedervereinigung – und Schmidt? Ich würde sagen, dass er unter schwierigen Bedingungen das Land auf Kurs gehalten hat, dass er als „Oberlehrer der Nation“ die Deutschen dazu erzogen hat, eine Demokratie angelsächsischen Typus innerlich zu akzeptieren. Schmidt, Offizier der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, war während seiner acht Kanzlerjahre dazu verdammt, Krisenmanagement zu betreiben, er hatte es mit zwei Ölkrisen und dem Terrorismus der Rote-Armee-Fraktion (RAF) zu tun. Er verhinderte, dass es in der Bundesrepublik zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kam. Kurz nach dem Ende seiner Kanzlerschaft hat er auf einem Parteitag das Verhalten der Italiener gelobt, die in einer vergleichbaren Situation gelassener als die Deutschen auf die Anschläge reagiert hätten. Die Genossen, beim Stichwort „Italiener“ in Gelächter ausbrechend, schwiegen betroffen.

Eine offene Diskussion in der SPD über ihn und sein Scheitern hat es nie gegeben. Wahr ist, dass die SPD 1982 die Regierungsverantwortung nicht länger ertrug, dass sie die Sparpolitik, die der Koalitionspartner FDP einforderte, nicht mittragen wollte. Noch emotionaler ging es beim NATO-Doppelbeschluss zu, der die Entstehung der Grünen zur Folge hatte. Zumindest in der Frage des Doppelbeschlusses gab die Geschichte Helmut Schmidt recht, die Sowjetunion hielt das Wettrüsten mit den USA nicht durch, fiel auseinander, nachdem sie die deutsche Wiedervereinigung zugelassen hatte.

Gefürchtet von Freund und Feind

Wenn Helmut Schmidt in den 1990er Jahren nach Berlin kam, die Stadt, in der er die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs als Soldat erlebt hatte, hielt sich der Publikumsandrang in Grenzen. Aber je unzufriedener die Öffentlichkeit mit den Leistungen der Regierungskoalitionen wurde, umso mehr wuchs die Begeisterung für den Ex-Kanzler. Er, der die Journalisten zu Regierungszeiten zusammengedonnert hatte, war nun selbst Publizist, Herausgeber der ZEIT und wegen seiner Beiträge in der Wochenzeitung von Freund und politischem Gegner gefürchtet. Schmidt hatte kein Regierungsamt mehr, aber er war der ‚Praeceptor der Nation‘. Das muss ihm große Befriedigung verschafft haben, denn über den Verlust des Amtes – über seine Abwahl per konstruktivem Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 – ist er zeitlebens nie hinweggekommen.

Ich sah ihn zum letzten Mal vor genau sechs Jahren in seinem Hamburger Büro. Wir sprachen über Außenpolitik, auch über das Einwanderungsland Deutschland, dessen Veränderung er mit großer Sorge sah. Er hielt, wie andere Bundeskanzler auch, die Deutschen für „ein gefährdetes Volk, das der politischen Orientierung bedarf“. Die „deutsche Neigung zum gefühlsmäßigen Überschwang“ könne gefährlich durchbrechen – prophetische Worte von Helmut Schmidt.