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Kolumnen

Jahrestag des Putschversuches: Ein Jahr danach gibt es nur Verlierer

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Zehntausende sitzen in Haft, die Verhaftungswellen nehmen kein Ende: Ein Jahr nach dem gescheiterten Putsch ist die Türkei ein gespaltenes Land. Niemand ist mehr sicher.

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Zehntausende sitzen in Haft, die Verhaftungswellen nehmen kein Ende: Ein Jahr nach dem gescheiterten Putsch ist die Türkei ein gespaltenes Land. Niemand ist mehr sicher, meint unser Autor.

Die Zahlen sind beeindruckend, aber verstören: In welchem Ausmaß die türkische Regierung von Recep Tayyip Erdoğan seit der gegen Andersdenkende, Kritiker und Gegner vorgeht, ist erschreckend. Statistiken des türkischen Justizministeriums zufolge wird aktuell gegen 169.013 Türken ermittelt, die in Verbindung mit der von Erdoğan sogenannten „Terrororganisation Fethullah Gülens“ (FETÖ) stehen sollen.

50.510 Menschen sollen in Haft sitzen. 48.000 Türken sind auf freiem Fuß, müssen sich aber regelmäßig bei den Sicherheitsbehörden melden. 8.000 Verdächtige sollen auf der Flucht sein. Die Säuberungswelle, die Erdoğan seit Juli 2016 mit harter Hand vorantreibt, ist allumfassend. Aus jedem Bereich der türkischen Gesellschaft wurden Menschen festgenommen, befragt, ins Gefängnis geworfen, verurteilt und nicht selten gefoltert. Für Letzteres gibt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ihr weltweit anerkanntes Wort.

Niemand ist sicher

Noch immer gibt es massenhafte Verhaftungen in Ministerien, Universitäten, Schulen, Krankenhäusern, bei der Polizei, in der Wirtschaft. Medienhäuser werden geschlossen, kritische Journalisten inhaftiert. Das Signal, das Erdoğan und seine Getreuen senden, lautet unmissverständlich: Niemand ist sicher, wir kriegen Euch alle. Selbst unbescholtene Bürger müssen fürchten, von unliebsamen Nachbarn denunziert zu werden. In der Türkei landet man derzeit so schnell im Gefängnis wie nie zuvor.

Für viele Familien in der Türkei ist der 15. Juli ein Wendepunkt. Für Erdoğans Anhänger ist er ein Tag der Stärke und das Datum, an dem sich Erdoğan erfolgreich gegen Terroristen und Mächte aus dem Ausland behauptete. Für alle anderen ist es ein Tag der Trauer: Familienmitglieder sitzen im Gefängnis, müssen sich zu Anschuldigungen äußern, werden von Sicherheitskräften bedroht, oder fürchten, auf einer der „schwarzen Listen“ zu stehen.

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Zuckerwatte statt Panzer

Die Türkei ist ein Jahr nach dem Putschversuch ein gespaltenes Land mit einem scheinbar übermächtigen Präsidenten. Parks, Schulen und Straßen erinnern mittlerweile landesweit an die Toten der Putschnacht. Sie sind von der türkischen Regierung und den gleichgeschalteten Medien längst zu Märtyrern erhoben worden. Eine Brücke über den Bosporus ehrt die „Märtyrer des 15. Juli“ nun mit ihrem Namen. Tausende sollen damals dem Ruf Erdoğans gefolgt sein und sich gegen die Putschisten erhoben haben. 249 bezahlten mit ihrem Leben – noch so eine beeindruckende, aber verstörende Zahl.

 

Dass Erdoğan den 15. Juli nun – ein Jahr später – als „Fest der Demokratie“ feiert und auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul Volksfeststimmung herrscht, ist angesichts der blutigen Auseinandersetzungen vor einem Jahr blanker Hohn. Zuckerwatte und Kinderkarussell täuschen nicht über eine fatale Entwicklung hinweg: Dieser Tage gibt es nur Verlierer. Egal ob Erdoğan-Anhänger oder Erdoğan-Kritiker, Gülen-nah, Gülen-fern, Gülen-Feind, verloren haben einzig und allein: die Menschen in der Türkei.