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Gesellschaft

„Ein Kopftuch weniger…“ – Als aus dem Hass Mord wurde

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Noch vor der Entdeckung des NSU, vor Breivik und vor Sarrazin ließ der Mord an Marwa El-Sherbini im Dresdner Landgericht erstmals das islamfeindliche Hass- und Gewaltpotenzial erahnen. (Foto: ap)

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„Ein Kopftuch weniger…“ - Als aus dem Hass Mord wurde
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Am 1. Juli 2009 fand im Saal 10 des Dresdner Landgerichts ein Prozess wegen Beleidigung statt, es war nicht der erste Termin in dieser Sache. Der damals 28-jährige Angeklagte Alexander W. hatte sich geweigert, die gegen ihn in erster Instanz verhängte Geldstrafe in Höhe von 780 Euro zu bezahlen, die ihm für ein beleidigendes Verhalten auf einem Spielplatz im August 2008 aufgebrummt worden war.

Die in Dresden als Apothekerin arbeitende junge Ägypterin Marwa El-Sherbini hatte W. damals höflich gebeten, die Schaukel, die dieser blockiert hatte, für ihren Sohn freizugeben, worauf W. sie mit unflätigen Worten überzog: Er wolle sie und ihr Kind nicht auf dem Spielplatz haben; sie habe weder das Recht, auf dem Spielplatz noch in Deutschland zu sein. Ihr Sohn werde später ohnehin ein Terrorist werden, und deutsche Kinder sollten das Gesicht eines späteren Terroristen nicht ansehen müssen. Auch sie, die Mutter, sei eine Terroristin. Und wenn ihr Kind schaukle, werde er es schaukeln bis zum Tod.

Andere Personen auf dem Spielplatz hatten die rassistischen Hasstiraden mitbekommen. Sie gaben teils in deutscher, teils in russischer Sprache ihrer Empörung Ausdruck. Als dies nichts half, gab einer der Zeugen der jungen Ägypterin ein Handy, um die Polizei zu rufen. Selbst deren Anwesenheit hinderte W. nicht daran, weiter Beleidigungen gegen die junge Frau auszustoßen. Obwohl Marwa selbst keine Anzeige erstattete, wurde sie als Zeugin vor Gericht geladen. Unter Wahrheitspflicht sagte sie über das aus, was sich zugetragen hatte, wobei sie nicht einmal einen besonderen Belastungseifer zeigte. Die Ergebnisse der Beweiserhebung reichten dem Gericht für einen Schuldspruch.

Alex W. hatte bereits im Beleidigungsprozess erklärt, die Kopftücher muslimischer Frauen beleidigten Deutschland, seine Geschichte und Kultur und damit ihn selbst. Die Tiraden, die er im Zuge seiner gerichtlichen Einlassungen von sich gab, klangen wie wortwörtlich aus den Sektenpublikationen der „islamkritischen“ Szene vorgelesen – und aus dem erst zwei Jahre später fertiggestellten Manifest des norwegischen Attentäters Anders B. Breivik.

„Der Mord, den Deutschland ignorierte“

Auch an jenem 1. Juli zeigte W. keinerlei Einsicht. Im Gerichtssaal fragte er Marwa El-Sherbini, ob diese denn überhaupt ein Recht hätte, in Deutschland zu sein. Dann setzte er nach: „Sie haben hier nichts zu suchen„. Und er begann zu drohen. „Wenn die NPD an die Macht kommt, ist damit Schluss. Ich habe NPD gewählt.”

Gleich darauf stürzte er sich mit den Worten „Du hast kein Recht zu leben“ auf die Frau und ihren Ehemann. 18 Mal stach er vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes auf die zu diesem Zeitpunkt schwangere junge Mutter ein, die noch an Ort und Stelle verblutete. Ein herbeieilender Polizist hatte darüber hinaus irrtümlich auf den Ehemann geschossen, als dieser die Stiche abzuwehren versuchte und dabei selbst vielfach getroffen wurde. Der damals 32-jährige Ägypter trug lebensbedrohliche Verletzungen davon.

In den ersten Tagen nach dem Verbrechen wurde unter Überschriften wie „Zeugin von Angeklagtem vor Gericht erstochen“ oder „Streit um eine Schaukel“ in untergeordneten Rubriken über den Fall berichtet. Erst nachdem in ausländischen Zeitungen das islamfeindliche Motiv thematisiert wurde, begannen die ersten deutschen Medien, sich eingehender mit dem Fall zu befassen. Der britische „Guardian“ sprach vom „Mord, den Deutschland ignorierte“.

Aber auch zu diesem Zeitpunkt war die Bereitschaft, sich mit der Islamfeindlichkeit als Motiv und mit den Abgründen, die diese neue, modernisierte Form des Rassismus bereits damals offenbarte, enden wollend. Die „Süddeutsche“ witterte Islamophobie lediglich in Russland, dem ursprünglichen Herkunftsland des Täters. Andere erregten sich über die „emotionale Debatte“, die entstanden war, und über angeblich geplante Vergeltungsmaßnahmen durch „Islamisten“.

Nazi-Parolen in Kommentarspalten

In den Kommentarspalten der „Welt“ und auf einschlägigen braunen Blogs traten die Befindlichkeiten der „Volksgemeinschaft“ noch ungefilterter zutage. So schrieb ein „islamkritischer“ Blog, die Getötete sei „selber schuld, hätte die Kopftuchschlampe mal nicht so provoziert“. Die rechtsextreme Seite „Politically Incorrect“ veröffentlichte einen Beitrag, in dem der Angeklagte Alexander W. mit dem 1933 von den Nazis als Sündenbock für den Reichstagsbrand präsentierten Marinus van der Lubbe gleichgesetzt wurde.

Die Leserkommentare offenbarten dann offen, welches Menschenbild die Basis der „Islamkritiker“ ist:

„Ich muss wenig zugeben, irgendwie stehe ich seit heute Marwa-Prozess, auf der Seite von Kopftuchmörder (alex)…!”
„Ein Kopftuch weniger!”

„Wie die meisten von uns das sicher auch schon erlebt haben, sind solche „höflichen” Fragen die absolute Ausnahme, sondern vielmehr treten gerade muslimische Frauen Deutschen gegenüber, gerade auch, wenn es um ihre Sprösslinge geht, mit einem sonderbar barschen, herrischem Gestus auf.”

„Der Rassismus gegen Deutsche durch islamische Zuwanderung wird natürlich nicht als Ursache für eine solche Tat diskutiert.”

In der Wortwahl etwas gesetzter, in der menschenverachtenden Botschaft jedoch ähnlich äußerten sich namhafte Exponenten der „islamkritischen“ Szene. So warnte die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, die als Funktionärin der „Arbeiterkommunistischen Partei Irans“ vom Verfassungsschutz beobachtete Mina Ahadi, vor einer „politischen Instrumentalisierung des Vorfalls“. Der schreckliche Mord gebe keiner islamischen Organisation das Recht, Islamkritikern einen Maulkorb zu verpassen. Der Soziologe und Erziehungswissenschaftler Hartmut Krauss bezeichnet die mediale Darstellung des Sherbini-Falls als realitätswidrig, Krauss beruft sich auf die Informationen bezüglich des Tatmotivs, welche der ermittelnden Staatsanwaltschaft vorliegen und postuliert, es habe sich bei der Tat um das Ergebnis eines „emotional hochgeschaukelten“ Streits gehandelt. Des Weiteren kritisiert er eine aus seiner Sicht eindeutige interessenpolitische Verwertung des Falls durch die Muslimverbände, welche dieses Verbrechen als vermeintliches Resultat einer angeblich vorhandenen „Islamophobie“ ausbeuteten.

Das Opfer zum Täter gestempelt

Auch im späteren Prozess gegen Alexander W. wurde beispielsweise seitens eines der Verteidiger eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Der „Spiegel“ zitierte damals den Anwalt Veikko Bartel aus Potsdam wie folgt: „Wir müssen fragen, warum dieser Angeklagte getötet hat. Dazu darf man nicht die Augen vor den gesellschaftlichen Umständen in diesem Land verschließen. Ist der Mandant ein fanatischer Einzeltäter mit Ausländerhass? Vielleicht. Aber da ist auch das Bild des Islam in Politik und Medien. Ich spreche nicht von den Anschlägen 2001, sondern von den täglichen Meldungen über Attentate.” Bei den Muslimen herrsche jedes Mal „betretenes Schweigen”, wenn von Ehrenmorden und Aufrufen zu Anschlägen die Rede sei. Ein „Bild der Barmherzigkeit” biete der Islam gerade nicht. Und dies müsse schließlich zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden. Im Klartext: Die Muslime sind doch selbst schuld.

Anders sah dies beispielsweise Stephan J. Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, der dem Ehemann der getöteten Marwa El-Sherbini einen Solidaritätsbesuch abstattete, und den Umgang mit dem Mord in der Öffentlichkeit mit deutlichen Worten anprangerte: „Angesichts dieser Situation tut ein klärendes Wort Not. Ich bin nicht nach Dresden gefahren, weil ich als Jude Angehöriger einer Minderheit bin. Ich unternahm die Reise, weil ich als Jude weiß: Wer einen Menschen wegen dessen Rassen-, Volks- oder Religionszugehörigkeit angreift, greift nicht nur die Minderheit, sondern die demokratische Gesellschaft als Ganzes an. Deshalb ist nicht die Frage relevant, warum ein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft Elwi Ali Okaz seine Trauer und Solidarität bekundete, sondern die, warum es nicht auch einen massiven Besucherstrom oder Solidaritätsadressen von Vertretern der deutschen Mehrheitsgesellschaft gab? Warum kamen die Reaktionen der Medienlandschaft wie der Politik auf den Mord so spät? Jetzt wird, nicht zuletzt unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit, nachgebessert. Allerdings überzeugt erzwungene Betroffenheit nicht.“

Dr. Sabine Schiffer vom „Institut für Medienverantwortung“ warf den Verantwortlichen am Dresdner Landgerichts schwere Versäumnisse vor und wies darauf hin, dass Alexander W. bereits vor dem Verhandlungstermin am 1. Juli 2009 einen Brief an das Gericht geschrieben hatte, aus dem das Hass- und Gewaltpotenzial des Täters erkannt hätte werden können. Es wäre angesichts des Inhalts angebracht gewesen, erhöhte Sicherheitsvorkehrungen zu Gunsten Marwa El-Sherbinis und ihrer Familie zu treffen.

„Haselnuss-Ampel“ im Dresdner Stadtrat

Zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und der Zivilgesellschaft in Dresden bemühten sich nach der Bluttat darum, die Erinnerung wachzuhalten an den ersten aus Islamhass begangenen Mord in Deutschland. Der Verein Bürger.Courage erinnert mit einer Kunstinstallation „18 Stiche“ an den Vorfall. Auf das Dresdner Stadtgebiet verteilt sollen 18 Betonstelen als Symbol gegen Alltagsrassismus und Fremdenhass in Form von in den Boden gerammten Messern errichtet werden, begonnen wurde hiermit am Jahrestag des Vorfalls vor dem Landgericht. Einige der Stelen wurden bereits zum Ziel von Vandalismus.

Der Freistaat Sachsen und die Stadt Dresden und dessen Kuratorium verliehen 2012 erstmals ein „Marwa El-Sherbini-Stipendium” für Weltoffenheit und Toleranz.

Eine von SPD und Grünen beantragte Straßenbenennung im Gedenken an Marwa El-Sherbini scheiterte an den Gegenstimmen einer „Haselnuss-Ampel“ aus CDU, FDP und NPD im Stadtrat, die den Antragstellern vorwarfen, die Stadt mit einem „Netz der Schande“ überziehen zu wollen. Ein CDU-Stadtrat drohte mit dem Parteiaustritt, sollte seine Fraktion der Umbenennung zustimmen. Der Kreisvorsitzende der FDP fällt heute noch regelmäßig durch Hasstiraden gegen Muslime auf, die in Diktion und Inhalt kaum von jenen der NPD zu unterscheiden sind.

Wenige Wochen nach dem Mord wurde diese übrigens zum zweiten Mal in den Landtag gewählt.