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Politik

Ein Pakt und Merkels Beitrag – Die Türkei hilft der EU aus der Krise

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Ein Pakt mit 1000 Fragezeichen – werden die EU und die Türkei all ihre Zusagen einhalten? Wählen Schlepper nun andere Fluchtrouten? Als großer Gewinner steht erst einmal Ankara da. Und auch Angela Merkel. Verlierer sind viele Flüchtlinge.

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Merkel und Davutoğlu
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Es ist die Botschaft, die Angela Merkel so dringend braucht und Flüchtlinge so sehr fürchten: Die Europäische Union schottet sich ab. Beschlossen am 18. März 2016 in Brüssel. Mit Hilfe der Türkei. Einem Land, das seit Jahrzehnten um Aufnahme in die EU bittet, deren Werte aber nicht unbedingt teilt. Jedenfalls hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan das just vor dem Gipfel so erklärt. Unter dem Eindruck eines neuen Anschlags in Ankara sagte er zu Forderungen nach mehr Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat: „Für uns haben diese Begriffe absolut keinen Wert mehr.“

In dieses Land wird die EU dann erst einmal Flüchtlinge zurückschicken, die ab Sonntag illegal auf die griechischen Inseln kommen – das haben die 28 Mitgliedsstaaten am Freitag mit dem türkischen Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu vereinbart.

Von der Türkei aus sollen dann syrische Flüchtlinge legal in EU-Staaten umgesiedelt werden. Aber erst einmal nur bis zu 72 000. Und diese Zahl ist keine zusätzlich vereinbarte Aufnahme von Flüchtlingen, sondern nur Teil der bisher bereits beschlossenen Gesamtzahl von rund 180 000 Menschen, denen die EU Zuflucht gewähren will.

Angesichts des bisherigen „Versagens der EU“, wie Kritiker schimpfen, erscheint aber fraglich, ob diese Umsiedlung schnell gelingt. Bisher wurden nur 4492 Menschen aufgenommen. Zum Vergleich: Nach Deutschland kamen 2015 rund eine Million Flüchtlinge. Vielleicht wurde in Brüssel deshalb gleich vereinbart: Falls die Zahl von 72 000 überschritten wird, muss neu nachgedacht werden. Kann Erdoğan Europa dann weiter unter Druck setzen? Und was geschieht mit den Menschen, die auf anderen Fluchtrouten, etwa wieder über Italien, kommen?

Erfolg nach monatelangen Rückschlägen

Für die Kanzlerin ist der Flüchtlingspakt trotz aller offener Fragen ein Erfolg. In mühseligen Verhandlungen hat sie das erreicht, wovon sie seit Monaten spricht: eine europäische Lösung. Noch Mitte Februar war eine (kleine) Koalition von willigen EU-Staaten zerbrochen. Deutschland – Merkel – wirkte völlig isoliert in ihrem Bemühen, nationale Grenzschließungen zu verhindern und eine gemeinsame Politik zum Schutz der EU-Außengrenze, Bekämpfung von Fluchtursachen und geordneter Flüchtlingshilfe zu machen. Nun haben 28 EU-Staats- und Regierungschefs den Pakt abgenickt.

Das bedeutet, dass bereits in den nächsten Wochen die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland zurückgehen könnte – wenn sich denn alle an die getroffenen Vereinbarungen halten. Und wenn die Abschreckung funktioniert, die die EU mit diesen Plänen gleichzeitig bewirken will: Schlepper sollen Nato-Schiffe in der Ägäis fürchten und Flüchtlinge die Gefahr, dass sie Hab und Gut für eine gefährliche Reise geben – und am Ende doch vor den Toren Europas stranden.

„Kommen Sie nicht nach Europa“, hatte EU-Gipfelchef Donald Tusk gesagt. So lautet jetzt die Botschaft der ganzen EU. Das müsste selbst Merkels schärfsten Widersacher besänftigen. CSU-Chef Horst Seehofer forderte Monate lang ein entsprechendes Signal – aber auch Abschottung und eine deutsche Obergrenze für Flüchtlinge. Dagegen hat sich Merkel erfolgreich gewehrt.

Zunächst hatte sich in der türkischen Delegation Enttäuschung breit gemacht, dass die EU sich so schwer mit Zugeständnissen an Ankara tut. Schließlich habe die Türkei – außer mehr Geld – keine Forderungen gestellt, die wesentlich über das hinausgingen, was die EU ihr bereits beim ersten Gipfel Ende November zugesagt habe, beklagte ein Regierungsvertreter.

Und es gehe nicht um Geld für die türkische Regierung, wie es in Europa oft dargestellt werde, sondern um Hilfe für die Flüchtlinge, fügte er hinzu. Sein Land habe allein für die Versorgung in den Camps – wo nur etwa zehn Prozent der 2,7 Millionen Syrer im Land lebten – mehr als neun Milliarden Euro ausgegeben. Dagegen verblassten die Milliardenhilfen, die die EU Ankara für die Versorgung der Flüchtlinge in Aussicht stellt – und die weit darunter liegen.

Unverständnis gibt es in Ankara auch an der Kritik von Menschenrechtsorganisationen, die Türkei sei nicht sicher für Flüchtlinge. Die Türkei habe mehr Flüchtlinge als jedes andere Land aufgenommen, sagt das Delegationsmitglied. „Niemand kann die Haltung der Türkei gegenüber Migranten infrage stellen.“

Türkei steht als Gewinner da

Dann kam es aber doch zur Einigung. Und nun wirkt die Türkei trotz der Lasten, die sie zu schultern hat, wie ein Gewinner. Besonders wichtig ist ihr die Wiederbelebung des EU-Betrittsprozesses, die jetzt in Gang kommen könnte, obwohl Zypern – das endlich eine Anerkennung als souveräner Staat durch die Türkei fordert – Bedenken angemeldet hatte. Und wenn alles glatt läuft, dürfte die Türkei die von ihr ersehnte Visafreiheit für ihre Bürger bei Reisen in den Schengen-Raum ab Ende Juni bekommen. „Das ist ein 50, 60 Jahre alter Traum für unsere Bürger“, sagte Davutoğlu vor dem Gipfel.

Umstritten ist die Visafreiheit innerhalb der EU-Staaten trotzdem. Gegner befürchten, dass dann massenweise Türken gerade nach Deutschland strömen könnten, um sich dort illegal niederzulassen.

Nicht zuletzt bereitet der eskalierende Kurdenkonflikt zunehmende Sorge in Europa. Nach Angaben der türkischen Regierung hat die Gewalt bereits mehr als 350 000 Menschen im Südosten des Landes vertrieben, und diese Zahl dürfte noch steigen. Nach dem Ende der Visapflicht könnten viele Kurden versucht sein, in der EU Schutz zu suchen.

Für ein Delegationsmitglied von Davutoğlu ist die Leistung der Türkei bei diesem Pakt aber unbestritten: Damit würden Leben in der Ägäis gerettet, sagt er – und die EU sehe in der Flüchtlingskrise endlich „Licht am Ende des Tunnels“. (dpa/ dtj)