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Gesellschaft

Ein Problem aus Zeiten, als es „den Westen“ noch gar nicht gab

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Seit jeher werden Religion und die daraus abgeleiteten Moralvorstellungen benutzt, um politische Ambitionen zu rechtfertigen und abweichende Meinungen zu delegitimieren, auch in der muslimischen Welt. Dabei plädierte der Prophet für die Meinungsfreiheit.

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Seit dem Tod des Propheten Muhammed (571-632) ist es eine immer wiederkehrende Diskussion in der islamischen Welt, was die Wahrheit ist und wer sie vertritt. Laut Wörterbuch bedeutet Wahrheit die Übereinstimmung einer Aussage mit der Sache, über die sie gemacht wird. Die Definition des Begriffs unterscheidet sich je nach Wissenschaftszweig in der sie verwendet wird. In der Mystik wiederum versteht man unter Wahrheit den Sinn, der sich hinter dem Sichtbaren verbirgt, der Kern hinter der Form. In der Logik hingegen bedeutete Wahrheit die Übereinstimmung des Denkens mit den Gegenständen der äußeren Welt. Im islamischen Recht bedeutet Wahrheit das göttliche Wissen und steht für das absolut Richtige. Jedoch ergänzen die Rechtsgelehrten diese Aussage mit dem Satz, dass es für den Menschen unmöglich ist, das absolut Richtige zu erreichen und dementsprechend zu urteilen. Daher ist es die Aufgabe des Menschen, seine ganze Anstrengung darauf zu konzentrieren, die Wahrheit zu erlangen. Nachdem man diese Anstrengungen im vollen Umfang unternommen hat, wird die erlangte Erkenntnis oder das Urteil als der Wahrheit am nächsten bewertet.

Kann gerade dieser Ansatz nicht zur Folge haben, dass dadurch die Produktion von Ideen und Meinungen verhindert wird, weil man Angst hat, nicht die volle Wahrheit herausfinden zu können? Unwahrscheinlich ist es nicht. Als ob unser Prophet das erahnt hätte, sagte er, dass derjenige, der ein zutreffendes Urteil erlangt, im Jenseits doppelt so hoch belohnt wird wie derjenige, der unbeabsichtigt ein falsches Urteil aus seinen Überlegungen ableitet. Das heißt also, dass derjenige, der zu einem falschen Schluss kommt, auch belohnt wird.

Somit hat Muhammad der Gedanken- und Meinungsfreiheit dauerhaft Tor und Tür eröffnet. Als Folge gibt es zu ein- und demselben Sachverhalt zahllose Meinungen und auf verschiedenen Gebieten sind hunderte von Denkschulen entstanden.

Obwohl aber diese Grundlage für das freie Denken geschaffen wurde, kann nicht bestritten werden, dass ein Verständnis vorherrscht, in welchem die eigene Ansicht als deckungsgleich mit der Wahrheit gesehen wird. Um es noch klarer zu formulieren: Leider wurde, angefangen bei den Kalam-Wissenschaften über die islamischen Rechtswissenschaften (Fiqh), von Koranexegese (Tafsir) bis zur Mystik, nach dem Prinzip „Nur wir sind im Recht und die uns Widersprechen sind im Aberglauben“ gehandelt und ein eigenes Monopol über die Wahrheit beansprucht. Die Folge war und ist, dass es Personen, Schulen, Gemeinden, Gruppen und Orden gab und gibt, die glauben, nur sie würden die Wahrheit vertreten. Auch wenn das sowohl in der Geschichte als auch heute oft vorkommt, entspricht es weder dem Kur’an, noch der Sunna oder den von diesen beiden Grundquellen abgeleiteten allgemeinen islamischen Prinzipien. Deswegen ist es falsch. Es ist ein falscher Ansatz, der wie jeder andere falsche Ansatz Tür und Tor für weitere öffnet. Es geht soweit, dass man seine Gegner des Unglaubens oder der Apostasie bezichtigt und bereit ist, sie ohne Augenzwinkern zu töten.

Leder dient der religiös begründete Apostasie-Vorwurf in diesem Fall zur Legitimation des eigenen Verbrechens und der Beruhigung des eigenen Gewissens. Man schaue sich die Bewegung der Charidschiten in der Frühzeit des Islam an. Das waren Menschen, die sich so oft vor Gott verbeugten haben, dass sich auf ihrer Stirn Schwielen bildeten. Sie scheuten sich aber nicht davor, eine schwangere Frau gnadenlos zu ermorden, nur weil sie auf der Seite Alis stand.

Und heute? Wen man sich die ideellen Wurzeln, die Entstehungsgeschichte der gnadenlosen Todesmaschinen, die in einem Atemzug mit Islam und Terror Erwähnung finden, näher anschaut und Anstrengungen betrachtet, die sie unternehmen, um ihre Gräueltaten zu legitimieren, dann wird man feststellen, dass alles damit seinen Anfang genommen hat, dass man nur sich selbst als Vertreter der Wahrheit sieht. Daher muss das Verständnis „Nur ich weiß, was gut, schön und wahr ist und nur das, was ich sage, ist richtig und alle anderen sind auf dem Irrweg!“ bekämpft werden. Es muss von Neuem überlegt werden, wie wir hierfür alle sozialen und medialen Möglichkeiten wie Schule, Familie, Print- und Onlinemedien, Literatur und soziale Medien effektiv einsetzen können.

Bei dieser Neubetrachtung darf kein Aspekt außer Acht gelassen werden. Es ist wichtig, den gesamten Sozialisationsprozess zu analysieren. Daher sollte genau angeschaut werden, welche Kenntnisse im Elternhaus, in der Schule und in der Moschee vermittelt werden und welche Kompetenzen Lehrer, Imame und andere Personen, die in diesem Prozess eine Rolle spielen, haben. Ebenso das, was in den Curricula der Schulen steht und von den Kanzeln der Moscheen gepredigt wird.

Auch wenn sich manche davor scheuen, sich dieser Herausforderung zu stellen; es ist ein radikales Problem, das eine radikale Herangehensweise und Lösung fordert. In seinem letzten Artikel vergleicht Fethullah Gülen dieses Problem mit einem Krebsgeschwür bei demr sich Metastasen gebildet haben. Man kann radikale Probleme nicht mit einer oberflächlichen Behandlung lösen. Es ist daher keine Lösung, den Patient in den Operationssaal zu führen und ihn an der erkrankten Stelle zu operieren. Es handelt sich um Metastasen. Der ganze Körper ist befallen. Übertragen auf die Gesellschaft heißt das: Das Übel hat sich auf der ganzen Welt verbreitet. Daher brauchen wir eine kurz-, mittel- und langfristige Strategie bei der politische, militärische, wirtschaftliche, religiöse, moralische und alle denkbaren Lösungswege ganzheitlich angegangen werden.

Die Lösungsanstrengungen im Bereich der Theologie und der Ideologie sind meiner Auffassung nach die wichtigsten Bereiche und verlangen sehr, sehr viel Zeit. Dafür, dass es soweit kommen konnte, tragen natürlich auch die westlichen Mächte Verantwortung, die in der nahen Vergangenheit viele Fehler gemacht haben. Aber alles auf den Westen abzuschieben und die Islamophobie verantwortlich zu machen, ergibt keinen Sinn. Als die Charidschiten kaltblütig Muslime schlachteten, gab es „den Westen“ noch gar nicht. Aber es gab Politik, Religion und das Bemühen, politische Fehler mit religiösen Argumenten zu legitimieren.