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Politik

Ein Ziel, mehrere Wege

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In Berlin fand kürzlich an der Humboldt-Universität eine Podiumsdiskussion über EU-Beitrittsperspektiven der Türkei statt. Grünen-Politiker Cem Özdemir forderte dabei die Wiederbelebung des Verhandlungsprozesses. (Foto: Ursula Moffit)

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Im kommenden September wird sich das Assoziierungsabkommen zwischen der Türkei und der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zum 50. Mal jähren. Dem völkerrechtlichen Vertrag von 1963, der einen türkischen EWG-Beitritt garantierte, folgten Jahrzehnte der inneren und äußeren Unruhen in der Türkei, sowie gescheiterte Modernisierungsversuche. Erst 2005 nahmen EU und Türkei die offiziellen Beitrittsverhandlungen auf, um bald darauf ins Stocken zu geraten. Die Diskussion hatte einen grundsätzlichen Charakter angenommen und das Interesse beiderseits abgenommen.

Am 15. Mai fand in der Humboldt-Universität zu Berlin eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Alternativen in Zeiten der Krise“ statt. Dazu sprachen Cem Özdemir (Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen), Prof. Dr. Tanja Börzel (Freie Universität Berlin) und Dr. Heinz Kramer (Türkeiexperte) über die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU, die verfahrenen Beitrittsverhandlungen und mögliche Lösungsansätze. Organisiert wurde die Abendveranstaltung vom Community Network Turkey und dem GeT MA, einem deutsch-türkischen Masterprogramm.

Merkels neuer Elan

Aktuell scheint die Bundesregierung der Mitgliedschafts-Debatte neuen Schwung verleihen zu wollen. Das war zumindest deklariertes Ziel des Außenministertreffens zwischen Guido Westerwelle und Ahmet Davutoğlu am vergangenen Sonntag. Auch Angela Merkel hatte vor ihrem Türkeibesuch im Februar gefordert, dass ein weiteres jener 35 Verhandlungskapitel eröffnet werden solle, von denen bislang erst eines abgeschlossen ist. Unterfüttert werden diese Botschaften in Richtung Ankara durch die Präsentation alternativer Integrationskonzepte, die in Zeiten der Eurokrise vor allem in Großbritannien diskutiert werden.

Cem Özdemir, dessen Beschwerde über Merkels halbherzige Türkeipolitik deren plötzlicher neuer Geschäftigkeit interessanterweise unmittelbar vorausgegangen war, spricht sich für einen EU-Beitritt aus – allerdings nur „bei erfüllten Voraussetzungen“, wie er betont und womit er die Podiumsdiskussion eröffnet. Des Weiteren hat für den ehemaligen Europaparlament-Abgeordneten der Zustimmungsrückgang für einen EU-Beitritt in der Türkei nichts damit zu tun, dass „die Türken auf einmal nicht mehr wollen“, sondern mit einer Art Enttäuschung: „Wenn die EU uns nicht will, wollen wir sie auch nicht“. Für die türkische Regierung stelle sich die Frage, ob sie den Preis eines „Souveränitätsverzichts“ bezahlen wolle. In jedem Fall gebe es viele ernsthafte Gründe, die Mitgliedschaft zu verhandeln. Ob es allerdings wirklich zum Beitritt kommen werde, wüsste Özdemir nicht.

Eine Frage der Zeit?

Die Politikprofessorin Tanja Börzel knüpft an den Grünenpolitiker an, in dem sie einen Türkeibeitritt in den nächsten Jahren ausschließt. Zum einen seien die erforderlichen sozialpolitischen Reformen zu tiefgreifend, um zeitnah realisiert zu werden. Zum anderen sei die Aufnahmefähigkeit der EU begrenzt, was sich an den alten westeuropäischen Staaten zeige, die die Osterweiterung anscheinend „noch gar nicht verdaut“ hätten. Darüber hinaus sei auch die Türkei beitrittsmüde geworden, weil sie sich mittlerweile eher in ihrer Rolle als Mittlermacht zwischen islamischer und westlicher Welt verstehe. Nichtsdestotrotz sei die türkische Identität eher eine politische als eine religiöse oder kulturelle und ein Beitritt perspektivisch wünschenswert.

Nach Börzel könnten Alternativen wie die 2004 von der CSU angeregte „privilegierte Partnerschaft“ weder eine rechtliche noch politische Lösung sein. Darüber hinaus sei die EU-Mitgliedschaft zu relativieren, denn Schengen- und Euro-Land würden ebenso eine vollständige Mitgliedschaft ausschließen. Durch diese Grenzen sehe sie allerdings eine attraktive Möglichkeit für eine schrittweise türkische Integration. Die Politikprofessorin ist sich sicher, dass die Türkei in absehbarer Zukunft beitreten wird.

Kramers Verschwörungstheorien

In gewisser Weise reiht sich nun auch Heinz Kramer ein, setzt aber auch einen „klaren Kontrapunkt“. Für den Politologen orientiert sich die Außenpolitik Recep Tayyip Erdoğans nicht mehr an den übergeordneten Zielsetzungen einer EU-Mitgliedschaft. Dies würde am AKP-Reformprogramm sichtbar. Ebenso wenig spiele die Kurdenfrage für die AKP eine Rolle – wobei zu bezweifeln wäre, ob die Lösung dieses Problems überhaupt zu einer stärkeren Demokratisierung beitragen würde. Warum die Regierung Erdoğan dann allerdings gegen die Stimmung in der Bevölkerungsmehrheit Friedensverhandlungen mit der PKK führt, erklärt Kramer allerdings nicht. Seiner Auffassung nach sei der Beitrittsantrag eine „liturgische Leerformel“ und sollte sogar beendet werden. Dies gelte umso mehr auch in Anbetracht der Tatsache, dass nicht einmal mehr NGOs in diese Richtung argumentierten, da viele von ihnen bereits „islamisch unterwandert“ seien.

In dem Wissen, dass entscheidende Schritte wohl nicht zeitnah erreicht werden würden, spekulieren die Gäste, ob, wie und warum ein Türkeibeitritt geschehen könnte. Fest steht, dass die Verhandlungen für den Bundestagswahlkampf unbedeutend sein werden. Das Essenziellste für die künftige Fortführung der Beitrittsverhandlungen, so scheint es nach der Podiumsdiskussion, sei wohl ein ehrlich geführter Dialog auf beiden Seiten der „freundschaftlichen Beziehung“. „Gerçek bir arkadaş her zaman doğruyu söyler – Ein wahrer Freund sagt stets die Wahrheit“, so bringt es Cem Özdemir auf den Punkt. Ob allerdings jeder, der von sich behauptet, „nur die Wahrheit“ zu sagen, auch ein Freund ist, bleibt fraglich.