Connect with us

Gesellschaft

Eindrücke aus der modernen Sagenwelt

Spread the love

Eine kurze Medienanalyse über die Nachrichten rund um die Proteste um den Gezi-Park in Istanbul. Und ein paar Impressionen zum Thema: „Warum es besser ist, weniger und dafür ausgewogen zu berichten, als viel und einseitig”. (Foto: ap)

Published

on

Eindrücke aus der modernen Sagenwelt
Spread the love

Da es nicht wenige Mitbürger geben dürfte, die nur eine Seite der Berichterstattung der Taksim-Demos kennen, in ihrer Informationspolitik gezielt selektiv vorgehen, um ja nicht von der Gegenseite überzeugt zu werden und ausschließlich den Sprechern ihrer Gruppe folgen, ist gerade ihnen wärmstens zu empfehlen, auch die Sicht der anderen Seite zur Kenntnis zu nehmen. Ganz nach dem Prinzip „audiatur et altera pars“ („Man höre auch die andere Seite”). Es gibt kein richtig und kein falsch, es gibt nur unterschiedliche Meinungen zu ein und demselben Sachverhalt. Wichtig ist lediglich, dass man sich nicht instrumentalisieren lässt und schon gar nicht für Kräfte, die dem eigenen Land nichts Gutes wollen

Fakt ist: Für die Koç-Universität in Istanbul/Sariyer, die nicht wenige der Protestierenden besuchen, wurden 80.000 Bäume gefällt. Die Bäume in Taksim hingegen sollten lediglich verschoben werden. Der Aufschrei umweltbewusster türkischer Bürger in Istanbul wegen zehn Bäumen in Taksim zu einer Protestaktion aus, die mehrere tausend Menschen angelockt hatte. So weit hat jeder die Ereignisse mitverfolgt. Und wir wissen auch, dass es mittlerweile nicht mehr nur um Bäume geht.

Die türkische Polizei hat sich mit ihrem brutalen Einsatz, unter anderem mit Tränengas, ins Zwielicht begeben, die Demonstranten hingegen werden vielfach als „Çapulcu“ (Lumpen) bezeichnet, die nichts zu einer Änderung der Lage beitragen können und wollen, weshalb es eine vergebliche Liebesmüh ist, die AKP oder gar den Ministerpräsidenten stürzen zu wollen. Zudem hat es Fälle von Vandalismus gegeben, es wurde öffentliches Eigentum zerstört und es gab auch Übergriffe auf Polizeibeamte und Zivilisten.

Die Demonstranten

In den meisten Fällen, in denen es bislang zu Aufständen oder Revolten gegen die türkische Regierung gekommen war, hatte dies sozialistische Beweggründe. Und nun haben wir sogenannte Sozialisten um uns herum, die gegen Imperialismus und Konsumgesellschaft aufstehen, auch wenn sie dabei Levi’s Jeans tragen und bei Starbucks abhängen. Dann gibt es welche, die, weil sie nicht an den Demos teilnehmen können oder wollen, am PC sitzen und mit einer unglaublich sozialen Ader die Welt vor allerlei Ungerechtigkeiten beschützen möchten, wobei die Ungerechtigkeit für sie diesmal Recep Tayyip Erdoğan heißt. Der Mann scheint viele wütend gemacht zu haben und diese Wut wird nun instrumentalisiert.

Es entsteht geradezu eine Kultur der Empörung

Sie empören sich über die Vernichtung der Bäume.
Sie empören sich über das Verbot des Verkaufs von Alkohol ab 22 Uhr.
Sie empören sich über das Verbot, sich öffentlich zu liebkosen.
Sie empören sich über die dritte Brücke und deren Benennung.
Sie empören sich über den dritten Flughafen.
Sie empören sich, dass ihre Selbstbestimmungsrechte verletzt würden.
Sie empören sich über den Bau eines Einkaufszentrums.
Sie empören sich über die Vernichtung kleiner Märkte.
Sie empören sich über Dumpinglöhne.
Sie empören sich vielleicht aber auch über die völlige Tilgung der Schulden beim IWF oder dass Israel sich für die Toten auf der Mavi Marmara entschuldigt hat.
Oder dass die PKK endgültig besiegt wurde, ohne dass jemandem dabei die Nase geblutet hat.
Oder dass die AKP seit mehr als zehn Jahre überlegen jede Wahl gewonnen hat.
Und vieles mehr.

Die Dynamik der sozialen Medien

Insbesondere auf Twitter und Facebook gab es die Möglichkeit, viele Lügengeschichten rund um die Gezi-Park-Demonstrationen zu verbreiten. Das ist inzwischen nicht neu, doch es gibt immer noch Sesselhelden, die sich durchklicken, ohne auf die Details einzugehen.
Doch welch ein Jammer, dass eine Technologie namens „Jammer“ für Störungen bei den Handygeräten geführt hat und so den Münchhauseniaden in den sozialen Medien auf die Parade regnete. Zunächst hatte Turkcell es mit einer Erklärung versucht, das Netz wäre überlastet, weil der Internetverkehr am Taksim hoch wäre. Eine andere Erklärung ist, dass die Ausfälle durch die Anwesenheit vieler Polizeiwägen am Ort verursacht worden sein könnten, da in den Einsatzfahrzeugen Jammertechnologie benutzt wird, um eine Abhörsicherheit zu gewährleisten.

Der Ruf der Türkei

Des Weiteren kennt der Opportunismus europäischer Medien keine Grenzen und man ergreift jede Gelegenheiten, um gegen die Türkei zu agitieren. So wird beispielsweise der Titel “türkischer Frühling” bemüht, der nicht annähernd etwas mit der Realität in der Türkei zu tun hat. Es ist wieder einmal eine selektive Berichterstattung, die dazu dienen soll, ein Bild entstehen zu lassen von wegen in der Türkei würden die Menschenrechte mit Füßen getreten, Minderheiten unterdrückt und eine islamistische Regierung herrschen. Dadurch soll noch einmal aufgezeigt werden, dass die Türkei nicht EU-konform wäre und eine Mitgliedschaft noch für weitere 30 Jahre auf Eis gelegt werden könne.

Das Schlagwort “islamistisch-konservative im Zusammenhang mit der AKP gehört zum festen Sprachgebrauch der deutschen Medien.

Hier kann ich nur Kamuran Sezers Worten beipflichten: “Es ist an der Zeit, dass sich der Blick aus Deutschland auf die Türkei endlich normalisiert. Denn – und das ist meine Prognose – im eurasischen Raum steuern wir auf ein deutsch-türkisches Jahrhundert zu. Aber eben nur, wenn die Extremisten in keinem der beiden Länder an Boden gewinnen.”

Dass weder die AKP noch Erdoğan extremistisch sind oder künftig werden können, verdeutlicht die Analyse von Michael Thumann (2011), in der er Erdoğan und seine Partei unter die Lupe nimmt.

Denn Thumann führt auf, dass die AKP eine stark auf die Wirtschaft hin orientierte Partei ist, die in den arabischen Ländern Bewunderung erntet. Trotzdem, so Thumann, gäbe es Misstrauen. Die AKP wird zwar als eine islamische Partei im Westen bezeichnet, doch ist sie vielmehr eine konservative Partei. Kapitalismus, Demokratie und Patriotismus sind die Tugenden dieser Partei, daher ist die einseitige Hervorhebung des Islamischen falsch, wenngleich Premierminister Erdoğan ein religiöser Mann ist. Es gibt im Übrigen in der Türkei bereits eine islamistische Partei, nämlich die Saadet, die allerdings zu einer Splittergruppe geschrumpft ist.
Einige Medienvertreter, unter ihnen Tamer Ergün, Geschäftsführer von Metropol FM (türkisch-deutsches Radio) sind zudem der Meinung, dass die Medien in der Türkei zu den Taksim-Vorfällen geschwiegen und wenn, dann regierungsnah berichtet hätten. Ergün behauptet, dass es dort keine Pressefreiheit gäbe und man deshalb sehr glücklich zu sein habe, dass es so ein Problem in Deutschland nicht gäbe. Zudem findet Ergün, dass wir uns alle in Deutschland in Sicherheit befänden, was für die Türkei nicht der Fall sei.

Recep Tayyip Erdoğan ist immer an der Tagesordnung

Der zu Beginn sehr unscheinbar wirkende Erdoğan wurde 1994 zum regierenden Bürgermeister von Istanbul gewählt. Wer Istanbul regiert, regiert die ganze Türkei, wurde damals gesagt.
Heute spricht die ganze Welt über ihn, er ist für viele seiner Anhänger “einer der größten Führer der Welt”, schreibt Welt.de.

Schon kurz nach seinem ersten Wahlsieg als Regierender Bürgermeister von Istanbul waren an der Technischen Universität Slogans wie “Defol RTE” (Hau ab RTE) zu lesen. Damals konnte ich nicht sofort etwas damit anfangen, ich erfuhr dann, dass RTE die Abkürzung für Recep Tayyip Erdoğan ist. Dieses las ich dann zunehmend auch an anderen Stellen. Die BTBTM (ein sozialdemokratischer Studierenden- und Akademikerverein) war damals sehr präsent an der TU Berlin und ihre Mitglieder sind offenkundig seit jeher Erdoğan-Gegner.

In London im Jahre 2010 begegneten uns englische Jugendliche mit Sprüchen wie “One minute, one Minute” und kicherten dabei. Ich hatte damals auch sehr geschmunzelt. Ich fand es irgendwie ganz niedlich – diese Assoziation. Erdoğan wurde im arabischen Raum hingegen als Held gefeiert, und die politischen Beziehungen zwischen Israel und der Türkei waren davon „noch” nicht nachhaltig beeinträchtigt.

Auch die Haltung Erdoğans in der Syrienpolitik sorgte bei vielen für Verwirrung. Er hat sich 2011 hinter das syrische Volk gestellt und Assad offen kritisiert. Welch Ironie des Schicksals: Nun wird er von einigen “Demonstranten”, vor allem in Europa, mit Assad verglichen.

Nach der Rückkehr von seiner Nordafrikareise hat Erdoğan mehr Einsicht gezeigt als vorher. Er räumte ein, dass der Polizeieinsatz unangemessen hart war, hat eine entsprechende Untersuchung eingeleitet und versprochen, dafür zu sorgen, dass die Verantwortlichen zu Rechenschaft gezogen würden. In seiner Rede am Flughafen vor knapp 100.000 Menschen sagte er ungefähr folgendes: „Wir waren niemals auf der Seite derer, die Herzen gebrochen haben, wir wollen Herzen gewinnen. Wir sind jedoch aufrecht geblieben, das hat nichts mit Dickköpfigkeit zu tun. Wir haben nichts mit Streit und Zwist am Hut. Wir sind gegen Vandalismus gegen Schlagen und Zerstören, gegen Brandstiftung.“

Die Solidarität mit Erdoğan

Dass Bülent Arınç und Abdullah Gül die Demonstranten zu Besonnenheit aufriefen, hatte nichts Direktes mit der Solidarität gegenüber Erdoğan zu tun. Man nennt es im Türkischen eher „arkasını toplamak“ (hinter ihm aufräumen). Doch Erdoğan weicht noch keinen Schritt zurück, denn er hat auch reichlich Rückhalt in den Massen. 100.000 Menschen versammelten sich, um ihn am Flughafen von seiner Reise aus Marokko, Algerien und Tunesien zu empfangen. In den sozialen Netzwerken erhält er ebenfalls viel Zustimmung, die einen Gegenpol zu den Gegnern Erdoğans bildet und in seiner Reichweite genauso erfolgreich ist. Hierbei fallen auch Äußerungen, die besagen, man habe noch nie die AKP gewählt, werde es aber künftig tun. Es ist darin stark eine Reaktion auf die Gewalt am Rande der Demos in Taksim zu erkennen.

Die Solidarität gegen Erdoğan

Zehntausende strömten auf den Taksim-Platz und auch in Europa gab es in den Städten Berlin, London und Paris Demoaufrufe, um gegen die Missstände in der Türkei zu protestieren. Viele haben in den sozialen Netzwerken ihre Profilbilder in ein Erdoğan-Bild umgewandelt, das durchgestrichen ist oder Teufelshörner aufgesetzt bekommen hat. Es kursieren Berichte über angeblich schwer Verletzte, deren Bilder abgebildet werden, die jedoch mit den Gezi-Aufständen nichts zu tun haben. Einfach mal drauflosposten und teilen und liken: Das geht schnell. Die Kontrolle ist zwar längst verloren, auch bedauern es aufrichtige Demonstranten, dass ihre gut intendierten Proteste in Vandalismus und Körperverletzung umgewandelt wurden. Einen Schulterschluss gab es aber auch unter vielen, die normalerweise verfeindet sind. Sozialisten mit Kemalisten, Fener-Fans mit Galata-Fans etc. Nicht zu vergessen ist aber auch der Schulterschluss der rechtsextremistischen Bürgerbewegung „Pro NRW“ mit der Alevitengemeinde in Köln. Gleichwenn sich die Alevitengemeinschaft davon distanziert, sie ziehen am gleichen Strang.

Schluss:

Wie es weitergehen wird, ist leicht absehbar. Wenn Recep Tayyip Erdoğan weiterhin angegriffen und diffamiert wird, steigt die Zahl seiner Anhänger im Lande und es steht ihm nichts mehr im Wege, im Jahr 2014 Staatspräsident zu werden. Ob seine Gegner ihn dann vergiften, wie es bei Turgut Özal der Fall war – was erst 16 Jahre später aufgedeckt wurde -, hofft man zumindest nicht.

Die Frage, die für mich offen geblieben ist, ist folgende: Was bewegt Menschen mit türkischen Wurzeln, die in Europa leben und ansässig sind, den Regierungschef ihres Herkunftslandes dermaßen schlechtzumachen, dass man beinahe das Bedürfnis verspürt, ihnen Asyl anzubieten? Was veranlasst sie, zu behaupten, sie würden nicht einmal frei in die Türkei einreisen können, um dort Urlaub zu machen? Vielleicht packen sie ja demnächst einen neuen Premierminister in ihre Koffer mit ein, wenn sie in die Türkei reisen, weil es an der Wahlurne nicht zu klappen scheint. Die Empörung über die Polizeigewalt im Zusammenhang Stuttgart21 oder Blockupy Frankfurt ist übrigens wesentlich geringer ausgeprägt gewesen, was bei den meisten auch Fragezeichen hinterlassen hat.