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Politik

Eine deutsche Bloggerin über die Türkei, Erdoğan und Gülen

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Putschversuch, Hizmet-Bewegung, Erdoğan und Fethullah Gülen. Seit Wochen beherrscht die Türkei die Berichterstattung. Wie wirkt sich das auf eine deutsche Bloggerin aus? Wir haben Birgit Kramp interviewt.

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Noch nie zuvor hat sich die deutsche Medienlandschaft derart intensiv mit der Türkei beschäftigt wie in den letzten zwei Wochen. Kein Tag vergeht ohne Nachrichten über Erdoğan und die Türkei. In diesem Zusammenhang gerät eine Bewegung in den Fokus, die beinahe genauso kontrovers diskutiert wird wie der türkische Präsident. Es ist die Rede von der Hizmet-(Gülen-)Bewegung, die von Präsident Erdoğan beschuldigt wird, hinter dem Putschversuch zu stecken. Obwohl Fethullah Gülen den Putschversuch direkt nach dessen Beginn selbst mit scharfen Worten kritisiert hat. Es wurde viel darüber berichtet, wer oder was diese Bewegung nun ist. Nach all den Diskussionen über Erdoğan und Gülen in den sozialen Netzwerken habe ich mir die Frage gestellt, was in deutschen Lesern und Beobachtern vor sich geht, wenn diese mit all diesen Spannungen zwischen Gülen und Erdoğan konfrontiert werden. Ich habe Birgit Kramp dazu ein paar Fragen gestellt:

Wer ist Birgit Kramp?

Eine ganz normale Bürgerin. Gelernte Kommunikationselektronikerin, Mutter von drei erwachsenen Kindern, Hundeliebhaberin und seit kurzem Bloggerin. Darüber hinaus engagiere ich mich in einem Bündnis gegen Rechtsextremismus und in der Flüchtlingshilfe.

Seit wann verfolgen Sie die Berichterstattung rund um die Türkei?

Die Nachrichten – insbesondere was den Flüchtlingsdeal angeht – habe ich schon seit längerem verfolgt. Aber seit dem Putschversuch, der mich ziemlich entsetzt hat, schaue ich natürlich etwas intensiver hin.

Wie hätte man ihrer Ansicht nach in der Türkei vorgehen müssen nach der Putschnacht?

Es ist sicher schwierig hier Ratschläge zu geben, aber was ich mir auf jeden Fall gewünscht hätte, wäre die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit gewesen. Diese Sicherheit haben die Menschen in der Türkei verdient. Sie haben sich gemeinsam gegen den Putschversuch gestellt, wohl wissend, dass dies ihr Leben kosten kann. Ich finde es sehr schade, dass durch das jetzige Vorgehen der türkischen Regierung, diese Leistungen der Bevölkerung in den Hintergrund rücken.

Finden Sie, dass es ein Türkei- oder Erdoğan-Bashing in Deutschland gibt?

Im Augenblick kochen die Emotionen sicher auf allen Seiten sehr hoch. Die sozialen Medien sind voll mit Kommentaren pro oder contra Erdoğan. Aber mein Eindruck ist dennoch, dass es sich dabei nicht um eine generelle Türkei-Ablehnung handelt, denn die meisten Menschen unterscheiden zwischen den Handlungen Erdoğans, die sie kritisieren, und der Bevölkerung in der Türkei. Ich beispielsweise kritisiere explizit gewisse Handlungen. Das tue ich auch, weil ich mich mit meiner Kritik hinter die Menschen in der Türkei stellen möchte, die z.B. unter ungerechtfertigten Verhaftungen leiden. Mit meiner Kritik möchte ich darauf aufmerksam machen und möglichst erreichen, dass genauer hingesehen wird. Denn die Menschen in der Türkei haben sich mehr Demokratie gewünscht und ich finde, man darf sie ihrer Hoffnungen nicht berauben.

Wann haben Sie zum ersten Mal von Gülen gehört?

Als Erdoğan ihn für den Putschversuch verantwortlich gemacht hat. Vorher kannte ich seinen Namen nicht.

Inwiefern durchleuchten die Medien in Deutschland für Sie die Gülen-Bewegung?

Auf der Suche nach Informationen bin ich überwiegend in den öffentlich-rechtlichen Medien fündig geworden. Es gab diverse Dokumentationen, die ich mir so nach und nach angesehen habe. Aber dennoch bleiben aus meiner Sicht viele Fragen offen.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie sich eine Meinung zu einem Thema, wie die Hizmet-Bewegung, bilden möchten?

Ich versuche möglichst viele Informationen zusammenzutragen, lese sehr viel und diskutiere mit Freunden und Bekannten über das Thema. Aber durch mein jahrelanges Engagement in der Bündnisarbeit habe ich es mir auch angewöhnt, mir mit meiner Meinungsbildung ein wenig Zeit zu lassen. Deshalb ecke ich zuweilen bei Freunden und Bekannten an, wenn ich nicht sofort deren emotionales Meinungsbild übernehme und ihnen zurück spiegele. Aber es ist mir in manchen Dingen einfach wichtig, mich nicht überreden oder im schlimmsten Fall emotional manipulieren zu lassen, sondern ich möchte ganz in Ruhe meine eigenen Schlussfolgerungen ziehen.

Glauben Sie, dass die Hizmet-Bewegung in den Putschversuch in der Türkei verwickelt ist? 

Also ich kann mir nach den derzeitigen Berichten vorstellen, dass unter den Putschisten auch Anhänger der Hizmet-Bewegung gewesen sein könnten, aber ich glaube nach derzeitiger Faktenlage nicht daran, dass es einen sogenannten Befehl von oben gab, der den Putsch quasi veranlasst hat.

Die Menschen wären sehr überrascht, würden sie erkennen, dass weit weniger unter ihnen auf einen Befehl warten, sondern durchaus autonom entscheiden und handeln. Viele Menschen schreiben gewissen Gruppierungen, Bewegungen oder Institutionen automatisch zu, dass sie sehr hierarchisch funktionieren und innerhalb dieses Systems niemand etwas ohne eine Anweisung oder einen Befehl entscheiden würde. So sieht es aber in der Realität eher selten aus. Manche Entscheidungen, so stellt sich im Rückblick heraus, wurden ohne vorherige Rücksprache oder Absprache mit der Führungsebene getroffen.

Um sich hier aber wirklich abschließend ein Bild machen zu können, müssen wir wohl abwarten, ob im Laufe der Zeit noch belastbare Fakten bekannt werden.

Was sagen Sie zu den Vorwürfen gegen die Hizmet-Bewegung in Deutschland? 

Das ist schwierig für mich, es in wenigen Sätzen zu erklären, deshalb würde ich diese Frage gerne in zwei Bereiche unterteilen.

Stichwort Sekte: Das ist ein Thema, dass mich im Augenblick sehr wütend macht. Es gibt im Grunde keine einheitliche Definition für den Begriff Sekte, sondern eher eine Vielzahl von unterschiedlichen Definitionen, die man auf Wikipedia genauer nachlesen kann.

Emotional ist der Begriff Sekte negativ behaftet. Wird er verwendet, so wird durch diese Verwendung eine Organisation oder Gruppierung in Verruf gebracht. Wird dieser Terminus also in der Medienlandschaft für eine bestimmte Bewegung oder Gruppierung verwendet, so wird dies von der Leserschaft automatisch als Warnung aufgefasst. Mich hat dies wie gesagt besonders geärgert, weil ich trotz gründlicher Recherchen keine tatsächlich gefährlichen Anzeichen für Sektenhaftigkeit feststellen konnte. Dabei gibt es jedoch eine Reihe von Merkmalen, auf die sich fast alle bei der Definition einer Sekte einigen können.

Zum besseren Verständnis würde ich dazu beispielsweise aus dem sogenannten „Fiebermesser der Sektenhaftigkeit“ von Georg Schmid und Joachim Müller zitieren, in dem die Merkmale einer Sekte zusammengetragen werden:

„Das Fieber steigt: nur ich / meine Gruppe hat das Heil / die Wahrheit: Die Lehre ist vollkommen und vom Himmel abgedeckt (himmlische Stimmen). Der Prophet ist allein „Werkzeug Gottes“. Wer anders glaubt / lehrt, ist verloren. Wer nicht mitmacht, ist verloren. Die Aussenweilt / meine frühere Welt (Eltern, Ehepartner, Kollegen) ist dämonisch, ebenso alle anderen Religionen. Das Datum meiner Konversion / meines Eintritts in die Gruppe entscheidet mein Leben; ich kann neu in Hell (das jetzige Leben) und Dunkel (das frühere Leben) unterscheiden. Identitätsmerkmale bestimmen das Leben im Alltag (neuer Name, besondere Kleidung, spezielle Nahrung). Jede Kritik ist für mich / für die Gruppe gefährlich. Das Verhalten des Einzelnen wird kontrolliert. Strafmaßnahmen werden verfügt.

Vom Fieber zum Kollaps: der Meister ist göttlich; ich allein bin nichts. Von mir wird Ich-losigkeit verlangt. Wir als Gemeinschaft sind allein selig machend, uns gehört der Himmel allein; alles andere ist zu verdammen. Ungläubige (besonders die des früheren Lebens – Eltern, Geschwister, Freunde) sind zu meiden, ja zu bekämpfen; Unglaube ist Dämonie, ist Verschwörung gegen die Gruppe. Isolation der Gruppe von der „Welt“ wird verlangt. Nur diese Gemeinschaft allein hat (Über-)Lebensrecht (Arche Noah). Beruhigt kann ich dem Weltuntergang zusehen, denn ich werde gerettet. Heiliger Krieg ist legitim, Martyrium – Leiden für den Glauben – führt ins Paradies; ebenso kann Selbstmord als Suche nach der anderen, besseren Welt (= Paradies) legitim sein (Sonnentempler, Heaven’s Gate).“

In den Dokumentationen, die ich über die Bewegung gesehen habe, konnte ich diese Anzeichen bei den befragten Mitgliedern der Bewegung nicht wahrnehmen. Deshalb ärgert mich die teilweise inflationäre Verwendung dieses Begriffes in der deutschen Medienlandschaft, denn zum einen fehlen mir wie gesagt die belastbaren Fakten dazu und zum anderen gefährdet eine gedankenlose Verwendung auf Dauer den sozialen Frieden in Deutschland. Verwendung darf er aus meiner Sicht nur dann finden, wenn es wirklich bewiesen ist, dass diese Bewegung eine Sekte ist oder aber sektenähnlich handelt.

Stichwort Unterwanderung: Hier stehe ich auf dem Standpunkt, dass, wenn ein Staat nicht möchte, dass sich Religion und Staat irgendwie miteinander verbinden, er dann in seinen Stellenausschreibungen genau mitteilen sollte, was er von seinen zukünftigen MitarbeiterInnen erwartet. Also dürfen sie beispielsweise Mitglied oder Anhänger einer Glaubensgemeinschaft sein oder eben nicht.

Die zweite Frage, die ich mir stelle ist: Was sollte die Hizmet-Bewegung mit einer „Unterwanderung“ bezwecken wollen? Es geistern hier ja Gerüchte herum, sie wollen den türkischen Staat so lange unterwandern, bis sie stark genug sind, um ihn dann zu übernehmen. Dann wollen sie wahlweise entweder die Scharia wieder einführen und/oder die Weltherrschaft an sich reißen. Aber für beide Annahmen gibt es keine stichhaltigen Belege. Die müsste es doch aber nach 40 Jahren aktiver Arbeit irgendwie geben, oder nicht? Dass sich Menschen so verstellen können, über so viele Jahre, das wäre für mich in der Tat ein sehr neues Phänomen.

Darüber hinaus würde ich mir ganz allgemein wünschen, dass Medien differenzierter berichten. Soweit mir bekannt ist, gibt es auch in der Türkei andere Glaubensgemeinschaften. Ich selber habe die türkische Gesellschaft bei meinem zweiwöchigen beruflichen Besuch am Anfang der 2000er Jahre als sehr vielfältig wahrgenommen. Es gab Frauen mit und ohne Kopftuch. Es gab Frauen, die Führungspositionen bekleidet haben und ebenso gab es Menschen, an denen der berufliche Aufstieg leider vorbeigegangen war. Aber dass alle irgendwie sehr homogen und leicht zu beeinflussen gewesen wären, das habe ich so nicht wahrgenommen. Ich glaube, es würden auch viele Menschen in der Türkei dagegen demonstrieren, wenn eine Regierung versuchen würde, den errungenen Fortschritt wieder rückgängig zu machen.

Abschließend würde ich gerne noch einmal den Blick auf unser eigenes Land richten. Denn in Deutschland haben sich in der Vergangenheit sowohl viele Deutschtürken als auch viele Deutsche für die Integration stark gemacht. Durch undifferenzierte Berichterstattung jenseits der tatsächlichen Fakten wird diese Leistung nicht nur infrage gestellt, sondern negiert. Ich finde das nicht nur sehr schade, es macht mich, wie gesagt, in gewisser Weise auch wütend.

Was kann die Hizmet-Bewegung Ihrer Meinung nach tun, um sich gegen diese Vorwürfe zu wehren?

Das ist eine sehr schwierige Frage und ich bin mir nicht sicher, ob ich hier wirklich Ratschläge geben kann. Es wurden aus der Politik ja bereits Vorschläge zu etwas mehr Transparenz im Bereich der Finanzierungen gemacht. Das wäre sicher ein Weg.

Ich würde mir wünschen, dass ich mich zum Beispiel darüber informieren könnte, wie diese Bewegung arbeitet. Bei meiner Recherche konnte ich heraushören, dass die Lichthäuser wohl häufiger in die Kritik geraten sind. In einer der WDR-Dokumentationen sprach ein Mädchen davon, dass sie sich sehr manipuliert gefühlt hat, als sie in einem dieser Häuser war. Da würde ich mir wünschen, dass die Bewegung der Kritik offen und ehrlich nachgeht und mögliche Unregelmäßigkeiten dann auch abstellt. Weiterhin gibt es zum Beispiel das Modell der offenen Moscheen, vielleicht wäre das auch ein Ansatz für die Hizmet-Bewegung. Und was mich natürlich interessieren würde wäre, wie die Bewegung selbst zu den Vorwürfen der türkischen Regierung steht.