Connect with us

DTJ-Blog

„Eine Zivilisation für Mensch und Tier“: Wie sich die Osmanen um Arme und herrenlose Tiere kümmerten

Published

on

Spread the love

Istanbul 1772: Als Ibrahim am Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam, wurde er von den Kindern bereits sehnlichst erwartet. Aber zu ihrer großen Enttäuschung hatte er offensichtlich nicht vor, einen größeren Ausflug mit ihnen zu unternehmen, sondern führte sie lediglich in den Hof der Moschee im Stadtviertel, wo er sie um einen Brunnen versammelte.

Ibrahim war ein „Müderris“, ein Dozent an der Medrese der Süleymaniye-Stiftung auf der anderen Seite des Goldenen Horns. Der Hochschullehrer lebte in einem Herrenhaus, Konak genannt, am Fuße des Galata-Turms mit seiner Frau und seinen Kindern Said und Destegül. Said war fünf Jahre alt und seine Schwester sieben. Gegenüber von Ibrahim wohnte sein Bruder Adil Bey. An diesem Tag nahm er auch dessen Kinder Mersed, Hayrunnisa und Dilruba mit. Diese waren fast im selben Alter wie Said und Destegül.

Die Familie hatte seit einigen Monaten einen Ziehsohn aus Albanien. Der Rekrute Betim wurde für einige Jahre in der Familie untergebracht, um die Sitten und Gebräuche des Landes zu lernen. Denn der Palast würde ihn für eine Weiterbildung im Staatswesen irgendwann abholen. Er wurde in der letzten Knabenlese von seiner Familie getrennt und in die Obhut dieser Familie übergeben.

„Was wollen wir denn hier? Wir kennen den Brunnen, wir kennen den Hof, und wir kennen die Moschee“, konnte Said seinen Unmut kaum verbergen.

„Wirklich? Dann schaut euch doch mal den Baumstamm da vorn an.“

„Aber was ist an diesem Baumstamm denn so interessant, Onkel?“, fragte Hayrunnisa.

Dieser Baumstamm dient einem ganz besonderen Zweck. In einigen, großen Moscheen stehen angefertigte Marmorsäulen statt Baumstämme. Wie ihr seht, ist an der einen Seite eine Kerbe in den Stamm geschnitten. Schaut sie euch einmal genauer an.“

„In dem Spalt sind Münzen. Was haben die denn dort zu suchen? Können wir uns die nehmen?“

„Nein, dieses Geld ist nicht für uns, sondern für hilfsbedürftige Menschen gedacht. Viele von ihnen schämen sich wegen ihrer Armut. Sie scheuen sich deshalb auch zu betteln. Wohlhabende Menschen wie wir legen hier einige Münzen ab und gehen dann ihres Weges. Die Bedürftigen nehmen sich dann heraus, was sie brauchen, um sich zu versorgen. Auf diese Weise protzen die Reichen nicht mit ihrer Großzügigkeit, und die Armen erfahren nicht, wer ihre Wohltäter sind. So funktioniert unsere Almosenkultur seit Jahrhunderten.“

„Und was passiert, wenn ein Bedürftiger mehr nimmt, als er braucht?“, fragte Betim.

„Die Erfahrung zeigt, dass das zum Glück kaum vorkommt. Denn die meisten fürchten sich vor Gott und Seiner Strafe im Jenseits, und dieser Glaube verhindert den Missbrauch dieses Systems.“

„Was für eine ausgezeichnete Idee“, sagte Destegül. „Wenn ich später einmal Geld habe, werde ich es auch so machen.“

„Würdest du mich auch unterstützen, wenn ich mittellos werde, Schwesterherz“, fragte Mersed sie.

„Natürlich, Bruderherz. Mit meinen Verwandten würde ich beginnen.“

„So ist es in der Tat vorgesehen, Destegül. Die Verwandten zuerst“, bestätigte Ibrahim seine Tochter.

Dann holte er seinen Geldbeutel aus der Tasche und steckte selbst zehn Akçe in die Kerbe, bevor sie zusammen den Hof der Ali-Efendi Moschee verließen.

„Vater“, sprach Said Ibrahim an. „Wolltest du uns nicht noch etwas zeigen?“

„Ja, aber dafür müssen wir erst zurück nach Hause gehen“, erwiderte Ibrahim.

Mit den Kindern im Schlepptau stieg Ibrahim die Treppe hinauf. Oben angekommen, ließ er die Leiter zum Dachboden herunter, kletterte hoch und ermunterte sie, ihm rasch zu folgen, denn es wurde bereits dunkel.

Als sie alle oben waren, deutete Ibrahim auf das Fenster im Dach. Am Rahmen befestigt war noch eine Leiter.

„So, Kinder. Seht ihr das Dachfenster dort? Durch dieses Fenster werden wir jetzt alle auf das Dach steigen. Ganz vorsichtig, einer nach dem anderen, über diese Leiter.“

„Hier oben war ich noch nie. Kletterst du von hier aus aufs Dach, wenn du Ziegel erneuern musst, Vater?“, fragte Said.

„Ja, mein Sohn, zum einen das; und zum anderen, um zu helfen.“

„Wer braucht denn auf dem Dach deine Hilfe?“, stutzte Mersed.

„Geh vor, Mersed, und dann sieh dir es mit eigenen Augen an.“

Ibrahim half Mersed durch die Luke. Doch mehr als die roten Dachziegel und zig weitere Dächer fielen ihm erst einmal nichts auf.

„Aber hier ist doch nichts.“

„Dort drüben, Mersed, der Strohhaufen neben dem Schornstein.“

„Ja, Onkel. Den sehe ich.“

„Stroh neben dem Schornstein? Aber warum?“, widersprach Said von unten.

Solange im Winter der Ofen brennt, lagern wir das Stroh neben dem Schornstein, sonst würde es schnell in Flammen aufgehen. Nach Ende des Winters im Frühjahr bedecken wir den Schornstein dann mit dem Stroh und was glaubt ihr, wer uns dann besucht?“, ließ Ibrahim die Kinder rätseln.

„Störche?“

„Ja, genau. Jedes Jahr im Sommer brütet hier eine Storchenfamilie. Und wenn es dann kälter wird, zieht sie in wärmere Länder weiter. Gelegentlich steige ich hinauf, um nachzuschauen, ob bei ihnen alles in Ordnung ist.“

„Toll. Hoffentlich wird es bald wieder wärmer“, freute sich Hayrunnisa bereits jetzt.

„Ihr wollt Tiere sehen? Dann kommt mit.“

Nun führte er die Kinder in eine Ecke des Dachbodens, die Said ebenfalls noch nie betreten hatte, weil sein Großvater dort etliche sperrige Gegenstände deponiert hatte.

„Von dem ganzen Kram hier kann sich dein Großvater einfach nicht trennen, Destegül. Als wenn er das je wieder brauchen würde!“

Als Ibrahim eine alte Truhe und zwei Holzstiele zur Seite schob, die Said nicht wusste, wofür sein Großvater sie benutzte, kam etwas Besonderes zum Vorschein.

Hinter diesen Gegenständen stand ein kleines, fein geschnittenes Holzhaus mit einer runden Öffnung, die mit einem Gitter verschlossen war. Als Ibrahim das Gitter öffnete, blickten drei Tauben aus dem Häuschen.

„Niedlich“, war die erste Bemerkung Dilrubas. „Kann ich sie streicheln?“

„Sicher“, sagte Ibrahim. „Die große Taube ist die Mutter und die kleinen sind die Kinder.“

„Gehören die uns, Vater?“, wollte Said wissen.

„Eigentlich nicht. Aber vorübergehend ja“, beantwortete Ibrahim.

„Was heißt das, Vater?“

„Es heißt: Wir züchten die Tiere, bis die Mutter wieder gesund ist. Sie ist angeschlagen. Tierfreunde wie wir, besorgen uns Tierhäuschen, um sie solange aufzubewahren, bis sie sich wieder in der Natur frei bewegen können.“

Abgesehen von diesen Tierhäuschen wurden an die Fassaden von vielen öffentlichen Einrichtungen und Residenzen ähnliche Vogelhäuser eingekerbt.

„Wir spielen also den Arzt?“, fragte Mersed.

„Ja, Mersed. Wir sind der Arzt und heilen die Tiere mit entsprechender Nahrung und Medikamenten.“

„Gibt es dafür keine Krankenhäuser?“, fragte Destegül.

„Schon. Aber um wie viele Tiere könnten sich die Ärzte sorgen? Wenn es im Volk kein Bewusstsein dafür gibt, haben sie es schwerer. Viele Menschen in unserem Viertel übernehmen die Fürsorge für solche Tiere.“

„Auch Garbis?“, fragte Said.

„Garbis, Lisias, David, Emrullah, Hüseyin, Sami. Sie alle versorgen die Tiere wie wir.“

„Herrlich. Ich muss morgen Hagop fragen, wo sie ihr Häuschen aufbewahren“, wurde Said neugierig. Hagop war der Sohn des armenischen Nachbarn Garbis im Viertel.

„Hast du das Häuschen selber gebaut, Vater?“, wollte Destegül wissen.

„Nein, meine Liebe. Es gibt eine Stiftung in Istanbul, die speziell für die Versorgung von kranken Tieren gegründet wurde. Menschen in dieser Stiftung basteln stundenlang an diesen Häuschen ehrenamtlich und verkaufen sie dann. Mit dem Geld, das sie kassieren, kaufen sie sich Holz, um weitere Häuschen zu bauen“, erklärte Ibrahim und schloss seine Erklärung mit einem Spruch des Propheten Mohammed ab:

„Bemitleidet die Wesen auf Erden, damit die Bewohner der Himmel ihre Barmherzigkeit euch gegenüber zeigen.“

Nach diesem Leitmotiv existierte im Osmanischen Reich jahrhundertelang eine Zivilisation, deren Sorge um die sie umgebende Natur unseren gegenwärtigen Gesellschaften ein gutes Beispiel sein sollte.