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Politik

Einwanderungsgesetz: „Den Anstoß hätten nicht die Flüchtlinge bilden dürfen“

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Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Brauchen wir mehr Zuwanderung? Die Meinungen gehen auseinander – nicht nur in den Parteien. Wir sprachen mit einem Experten vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. (Foto: dpa)

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Kopien ausländischer Zeugnisse und Ausbildungsnachweise liegen am 19.10.2010 in einem Büro der Abteilung «Recht und Fair Play» der Handelskammer Hamburg.
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Im Gegensatz zu ihrer Fraktion will Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einem Einwanderungsgesetz in Deutschland noch keinen Riegel vorschieben. „Meine Meinungsbildung dazu ist noch nicht abgeschlossen“, sagte die CDU-Vorsitzende am Dienstag in Berlin und öffnete damit die heftige Debatte in der großen Koalition wieder für neue Vorschläge. CDU-Generalsekretär Peter Tauber und der Koalitionspartner SPD plädieren für ein Zuwanderungsgesetz, der Großteil der Union lehnt das ab.

Die Unionsfraktion hatte zuvor noch erklärt, CDU und CSU im Bundestag sähen nach intensiver Prüfung keinerlei Handlungsbedarf. Ein Zuwanderungsgesetz sei nicht nötig. Deutschland habe mit dem Aufenthaltsgesetz ein gutes System.

SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann, der seine Ideen zur Zuwanderung in einem Interview mit der Bild am Sonntag zusammenfasste, sagte am Dienstag: „Ich freue mich, dass die Debatte über Einwanderung in Deutschland richtig Fahrt aufgenommen hat.“ Viele unterschätzten die gewaltige Dramatik für die Volkswirtschaft, „wenn in den nächsten zehn Jahren 6,7 Millionen Arbeitskräfte ausscheiden, die nicht ersetzt werden können“. Er werde sich in der kommenden Woche in Kanada ein Bild von dem dortigen Punktesystem und dessen Vor- und Nachteilen machen.

In Kanada werden Fachkräfte nach einer festen Quote und Kriterien wie Alter, Qualifikation oder Sprachkenntnissen ins Land geholt. Ein System nach diesem Vorbild hatte Oppermann für die Zuwanderung von Fachkräften aus Ländern außerhalb der EU vorgeschlagen.

Ab 10.45 Uhr beraten die Abgeordneten im Bundestag über die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in einem Antrag erhobene Forderung nach einem modernen Einwanderungsgesetz. Kernpunkte des neu zu schaffenden Gesetzes sollen nach Ansicht der Grünen Entbürokratisierung, Integration und Partizipation sein.

Wir sprachen darüber mit Stephan Sievert, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Herr Sievert, was halten Sie vom kanadischen System?

Seit 2005 das Zuwanderungsgesetz in Kraft trat, gibt es immer wieder Diskussionen darüber, wie Deutschland international um Fachkräfte werben kann. Selbst das Thema Punktesystem nach kanadischem Vorbild war damals schon im Zentrum der Debatte. Man könnte fast sagen, dass es für das Punktesystem inzwischen zu spät ist, da sich selbst Kanada immer weiter von ihm entfernt. Ursprünglich war die Idee des Punktesystems, Zuwanderer aufgrund von deren Qualifikationen, Sprachkenntnissen und anderen Fähigkeiten auszuwählen, ohne dass die Zuwanderer bereits über ein Jobangebot verfügten. Man vertraute darauf, dass sie sich langfristig erfolgreich integrieren würden. Dabei gab es allerdings Probleme, da kanadische Arbeitgeber häufig die Bildungsabschlüsse und Arbeitserfahrung aus dem Ausland nicht anerkannten. So ist Kanada in letzter Zeit eher an das deutsche System herangerückt, das im Grunde immer noch darauf basiert, dass nur derjenige zuwandern kann, der ein Jobangebot in Deutschland hat.

Brauchen wir ein „neues“ „modernes“ Gesetz? Oder reichen die vorhandenen gesetzlichen Regelungen aus? Welche Verbesserungsmöglichkeiten sehen Sie in diesem Bereich?

In dem sogenannten Aufenthaltsgesetz haben wir alle wichtigen Regelungen zum Thema Einwanderung. Das bedeutet, wir haben bereits ein Gesetz, nur heißt es eben Aufenthaltsgesetz und nicht Einwanderungsgesetz. Dies bedeutet aber nicht, dass alle Regelungen in dem Aufenthaltsgesetz bereits perfekt wären oder nicht mehr verbessert werden könnten. Sicherlich könnte es einfacher gestaltet werden. Auch könnte es sich lohnen, darüber nachzudenken, wie Deutschland noch attraktiver für internationale Fachkräfte werden könnte. Eine Idee wäre, die Hürden für die Einwanderung für diejenigen zu lockern, die bereits über Deutschkenntnisse verfügen.

Es werden Zahlen wie 300 000 genannt, die Deutschland an Einwanderung im Jahr brauche, um die Lücke an qualifizierten Arbeitskräften zu schließen. Wie beurteilen Sie diese Zahlen, hat Ihr Haus diesbezüglich Untersuchungen gemacht oder gar eigene Zahlen? Wie viel Zuwanderung braucht Deutschland jährlich?

Wie viele Zuwanderer Deutschland genau benötigt, um die Fachkräftelücke zu schließen, lässt sich nicht genau beziffern. Klar ist, dass selbst ein jährlicher Wanderungsüberschuss von 300.000 die demografischen Veränderungen nicht komplett auffangen würde. Wenn ein Großteil dieser Zuwanderer aber schnell in Deutschland eine Beschäftigung findet, wäre dies eine Zahl, die erheblich dazu beitragen könnte, die Folgen des demografischen Wandels für die Sozialsysteme abzufedern.

Die hohen Zuwanderungszahlen der letzten Jahre beruhen vor allem auf Zuwanderung aus anderen EU-Staaten. Verschiedene Sondereffekte haben dazu beigetragen, etwa die Krise in Südeuropa und die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Rumänen und Bulgaren. Langfristig sollten wir uns aber nicht allein auf diese Art der Zuwanderung verlassen, da sich die innereuropäischen Wanderungsströme bei veränderter Wirtschaftslage schnell verändern können.

Wird die Diskussion über Einwanderung sachlich und fachlich korrekt geführt? Was vermissen Sie?

Ich finde es interessant, dass die Diskussion um ein neues Einwanderungsgesetz und ein Punktesystem vor dem Hintergrund der Flüchtlingsströme über das Mittelmeer entstanden ist. Denn im Grunde genommen haben diese beiden Arten von Zuwanderung wenig miteinander zu tun. Während es beim aktiven Anwerben von Fachkräften notwendig ist, Kriterien zu definieren, welche und möglicherweise wie viele Menschen einen Aufenthaltstitel in Deutschland erhalten sollen, ist dies im Fall von Asylbewerbern und Flüchtlingen keinesfalls so. Hier müssen und wollen wir all jene aufnehmen, die schutzbedürftig sind. Und wer schutzbedürftig ist, ist unter anderem in der Genfer Flüchtlingskonvention geregelt. Es wäre falsch, unter Flüchtlingen danach zu unterscheiden, wer besonders gute Qualifikationen hat oder wer sich hier besonders gut integrieren dürfte.

Wie steht es hierzulande mit der Willkommenskultur? Was läuft gut, woran fehlt es Ihrer Ansicht nach?

Das Komplizierte an der Willkommenskultur ist, dass niemand genau sagen kann, was damit gemeint ist. Also ist sie auch schwer messbar. Grundsätzlich denke ich aber schon, dass wir in Deutschland Zuwanderern gegenüber offener und positiver eingestellt sind als noch vor einigen Jahren. Allerdings steht diese Offenheit noch auf wackligen Füßen, wie sich jüngst bei den Pegida-Demonstrationen gezeigt hat. Umso wichtiger ist es, dass in Zukunft differenzierter und sachlicher über das Thema Zuwanderung berichtet wird. So hat die Debatte um die vermeintliche Armutszuwanderung aus Rumänien und Bulgarien bei vielen zu einer Skepsis gegenüber allen rumänischen und bulgarischen Zuwanderern geführt, obwohl die allermeisten von ihnen in Deutschland rasch eine Beschäftigung gefunden haben. (mit Material von dpa)