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Politik

EM-Halbfinale: Warum ich mich freue, dass Deutschland gestern verloren hat

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EM-Halbfinale Frankreich 2016
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KOMMENTAR Die meisten deutschen Fußballfans und Fanmeilenpatrioten hatten gestern einen schweren Abend. Besser gespielt, aber durch zweifaches Pech gegen die auf Augenhöhe agierenden Franzosen verloren; das war wohl der gängigste Eindruck des EM-Halbfinales. Umso bitterer schmerzt vielen, dass die deutsche Mannschaft nicht mehr umsetzen wird, wovon viele insgeheim wahrscheinlich schon ausgegangen sind, nämlich auch diesen Titel noch zu holen. Dabei hat Deutschland gestern mehr gewonnen als verloren.

Sportlich kann man sich natürlich streiten. Ja, die deutsche Mannschaft hat das Spiel auf weiten Strecken dominiert. Aber der Elfmeter und das Tor, das durch Joshua Kimmichs Fehler zustande kam, waren nun mal keine höhere Gewalt, sondern menschliche Fehler, die die Franzosen für sich auszunutzen verstanden. Auch das ist Fußball. Aber darum geht es eigentlich auch gar nicht.

Als allererstes sollte man eines erhobenen Hauptes tun: Den Franzosen den Sieg gönnen und für Sonntag die Daumen drücken. Das Land hat anderthalb furchtbar schwere Jahre hinter sich. Nicht nur der Terror, der es heimgesucht hat, sondern auch die sozialen Probleme, das politische Chaos, die gewaltvollen Demonstrationen der letzten Wochen und Monate. Damit hatten wir hier nicht zu kämpfen. Umso mehr haben es sich die Franzosen verdient, endlich mal wieder einen kollektiven Freudentaumel zu erleben, der diese Probleme freilich nicht lösen wird, aber vielen Menschen mal eine wohlverdiente Auszeit verschafft. Gönnen wir es ihnen.

Aber auch mit Blick auf Deutschland bin ich über den Ausgang des Spiels froh. Einerseits erhoffe ich mir ein Nachlassen des bierseligen, schmandigen Schland-Geseiers, das seit Wochen in nervtötender Regelmäßigkeit die Straßen verstopft. Soll sich, wer will, gerne mit Deutschlandfahnen behängen, bemalen, beschmieren und sich auf den Fanmeilen der kollektiven Efferveszenz hingeben. Sehr gern, go for it! Meine Sache ist es nicht, aber auch das gönne ich natürlich allen, die ihren Spaß daran haben. Wenn da doch nicht immer wieder der hässliche Deutsche durchstechen würde, immer mal wieder ein Hitlergruß zu sehen und die erste Strophe des Deutschlandliedes zu hören wäre. Man braucht erst gar nicht auf die berechtigten Debatten darüber, ob der vermeintlich unpolitische Fußballpatriotismus nun gewissen dunkle, nationalistische Befindlichkeiten der „deutschen Seele“ zutage fördert oder sogar deren Entstehung befördert, eingehen. Selbst ohne diese Fragen und die echten Nazis auf den Fanmeilen muss man einfach sagen, dass diese ganze schmierige Deutschtümelei, das allzu häufige Umschlagen des vermeintlich unpolitischen Partypatriotismus in hässlichen, echten Nationalismus, uns angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre (AfD und brennende Flüchtlingsheime, um nur zwei Stichworte zu nennen) einfach nicht steht.

Und dann ist da – noch viel wichtiger als Deutschland! – Europa. Fußball ist eine Herzenssache, es geht um das gemeinsame Erlebnis, um die emotionale Bindung und entsprechend um die gemeinsam erlebte Freude, Ekstase, Trauer, manchmal Wut und Frustration. Und da kommen Deutschland und die Gefühle der Europäer ins Spiel. Seien wir ehrlich: Für viele europäische Fußballfans dürfte es mindestens eine insgeheim empfundene Befriedigung sein, dass Deutschland nicht Europameister wird. Und das gönne ich ihnen. Ich empfinde es sogar genauso. Nicht nur ist die deutsche Mannschaft bereits Weltmeister, was wir nicht vergessen sollten. Deutschland ist auch abseits des Rasens die dominierende Macht in Europa – und das in ungesundem Maße.

Die politische Katastrophe des Brexit hat bei vielen Europäern erneut die Sorge wach werden lassen, dass sich Deutschlands zu dominante Position in Europa jetzt noch weiter verfestigen wird, da das britische Korrektiv fehlt. Natürlich hat die Fußball-EM nichts unmittelbar mit diesen politischen Fragen zu tun, selbstverständlich wird die Europameisterschaft keine Auswirkungen auf die großen politischen Entwicklungen in der EU haben. Aber was Fußball und Europa gemeinsam haben, ist, dass beide emotionale Kapazitäten mobilisieren. Deutschland wird nicht umsonst, vor allem in Südeuropa, als der arrogante, kalte, rechthaberische Lehrmeister empfunden, der anderen Ländern aufzwingt, was er für richtig hält.

Europa muss aber auch immer durch eine emotionale Bindung zusammengehalten werden. Was passieren kann, wenn diese fehlt, haben wir ja gerade erst durch den Brexit sehen müssen. Dann können die feigen und verachtenswerten Rattenfänger ebendiese negativen Gefühle ausnutzen, um die Errungenschaften Europas für ein Land – und im schlimmsten Falle irgendwann für den ganzen Kontinent – zu zerstören. Es ist gut, dass Deutschland nun wenigstens im Fußball, der doch so viele Millionen Menschen auf diesem Stück Erde emotional umtreibt, den Kürzeren gezogen hat und sich hoffentlich als guter Verlierer präsentiert. Verdammt nochmal, was glauben wir denn eigentlich, wer wir sind? Wir sollten uns endlich mal in Demut üben!

Wie gesagt: Das wird natürlich nicht dazu führen, dass die Bundesregierung beginnt, auch die Ideen und Befindlichkeiten anderer, vor allem südeuropäischer EU-Länder endlich mehr zu berücksichtigen und einzubeziehen. Aber allzu viele der Millionen von fußballbegeisterten Menschen in Europa unterscheiden bei ihrem Gefühl, das sie haben, wenn sie an Deutschland denken, eben nicht fein säuberlich zwischen Weltpolitik und 22 Jungs in zu kurzen Hosen. Und wenn diese Menschen etwas weniger das Gefühl haben, dass Hans mit dem Stahlhelm über Europa herrscht, dann ist schon viel gewonnen. Und zwar etwas viel wichtigeres als so ein schrottiger Blechpott.