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Politik

Türkei soll sich Deutschland zum demokratischen Vorbild nehmen

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Die große endaX-Studie zur Frage der Wahrnehmung der Ereignisse in der Türkei in der Einwanderercommunity offenbart ein hohes Maß an Unzufriedenheit mit der Situation. Man lernt dabei offenbar, die deutschen Verhältnisse zu schätzen. (Foto: endaX)

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Die Razzien vom 17. Dezember 2013 und die bevorstehenden Kommunalwahlen am 30. März 2014 sind auch in deutschen Medien präsent. Die türkische Einwanderercommunity verfolgt die Entwicklung aufmerksam mit. Der Streit in der Türkei und wie die Ereignisse genau zu deuten sind, kommt vielfach aber nur bruchstückhaft in Deutschland an. Wie aber denken Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland über die Krise in der Türkei?

Die Meinungsforschungsinitiative „endaX – Ihre Stimme in Deutschland” des futureorg Instituts aus Dortmund hat deshalb eine Studie mit dem Titel „Korruptionsaffäre oder Verschwörung“ durchgeführt und auf diesem Wege interessante Ergebnisse zutage gefördert. 1059 Deutschtürkinnen und -türken haben an der Umfrage teilgenommen, das sind fast doppelt so viele wie vor einem Jahr an der ersten groß angelegten endaX-Studie zum Wahlverhalten.

Die Mehrheit der Deutschtürken ist demnach überzeugt, dass die Regierung der Türkei tatsächlich in eine Korruptionsaffäre verwickelt ist (82,5%). 86,1% der Befragten glauben ferner nicht, dass die sog. Hizmet-Bewegung um den Prediger Fethullah Gülen hinter den Razzien vom 17. Dezember steckt. Mittels dieser Erklärung hatte die Regierung in Ankara von Beginn an versucht, die Ermittlungen zu diskreditieren. Inzwischen hat sich gar Staatspräsident Abdullah Gül im Rahmen seines Staatsbesuchs in Dänemark von diesen Erklärungsansätzen distanziert und sie als Verschwörungstheorien abgetan, die eher typisch für Dritte-Welt-Ländern seien. 86,7% kritisierten die Versetzung von Polizeibeamten, Richtern und Staatsanwälten infolge der Ermittlungen.

Verhältnismäßig viele glauben an Verschwörung ohne Beteiligung der Hizmet

Auffällig ist jedoch, dass verhältnismäßig mehr Teilnehmer der Umfrage sich nicht sicher sind, ob nicht doch auch sachfremde Erwägungen mit den Ermittlungen zu tun haben, sprich, dass es durchaus verschwörerische Hintergründe dazu gäbe, die jedoch nicht zwingend mit der Hizmet-Bewegung zu tun hätten. 24,1% der Befragten sind nämlich der Meinung, dass andere Staaten im Zusammenhang mit dem Skandal eine Rolle spielen. Frauen neigen dieser Auffassung mit 34,9% eher zu als Männer (18,4%).

Mit Blick auf Auswege aus der Krise machen die Ergebnisse deutlich, dass die Community verunsichert ist: Es herrscht zwar eine hohe Einigkeit darüber, dass sich das Militär aus der aktuellen Krise heraushalten soll, die Community zeigt aber wenig Vertrauen in institutionelle Lösungen. 44,3% der Befragten setzen beispielsweise auf Neuwahlen als Ausweg aus der Krise. Auch der Vorschlag, eine Kommission einzurichten, die zwischen der Hizmet-Bewegung und der Regierung vermittelt, findet von den Befragten keinen überzeugenden Zuspruch. Statt auf Institutionen setzen die Befragten auf einzelne Persönlichkeiten. Eine hohe Erwartung haben die Deutschlandtürken gegenüber den Staatspräsidenten Abdullah Gül. 87,5% sind der Meinung, dass dieser sich aktiver in die Lösung der Krise einbringen solle.

Transparenzoffensive kommt gerade zur rechten Zeit

Auch wenn die Befragten anführen, dass die Hizmet-Bewegung nicht hinter den Razzien stecken, sind sie scheinbar hinsichtlich ihres Einflusses auf den türkischen Staat unschlüssig. 53,5% der Befragten verneinen die Ansicht, dass es seitens der Hizmet-Bewegung erforderlich wäre, ihre Rolle im Staat offenzulegen, um die Krise zu überwinden. 27,2% meinen hingegen, dies wäre wichtig und 19,3% waren sich zu dieser Frage unsicher. 27,6% waren der Auffassung, die Hizmet-Bewegung müsse sich dazu verpflichten, sich nicht mehr in die Politik einzumischen, um das Problem lösen zu können. 58,6% sind gegenteiliger Ansicht, weitere 13,8% sind hier unentschlossen.

Die Hizmet-Bewegung hat, um exakt dieser Unsicherheit entgegenzuwirken, sehr früh eine „Transparenzoffensive” gestartet. In der Türkei übernahm die „Vereinigung der Journalisten und Schriftsteller“ (GYV) diese Aufgabe und bildet das Sprachrohr der weitgefassten Hizmet-Bewegung. In Deutschland wurde ihr mit der Gründung der Stiftung Dialog und Bildung und seinem Vorsitzenden Ercan Karakoyun eine Stimme und ein Gesicht gegeben. Die Stiftung soll der Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft als Ansprechpartner dienen.

Deutsche Demokratie als Vorbild

Das möglicherweise bemerkenswerteste Ergebnis der Umfrage betrifft allerdings die Bewertung der Demokratie insgesamt in der Türkei und in Deutschland, welche eine eindeutige Präferenz unter den Einwanderern für das deutsche Modell erkennen lässt.

Während die türkische Demokratie vor einem breiten Vertrauensverlust steht und nur 8.1% der Befragten der Auffassung sind, dass die türkische Demokratie sehr gut bis gut funktioniere, geben 59,9% das Gegenteil an. 77,8% glauben aber auch, dass die Justiz in der Türkei nicht unabhängig ist.

Hingegen ist das Vertrauen in das deutsche Modell der repräsentativen Demokratie so stark, dass gleich 57,7% der Befragten diese als potenzielles Vorbild für die Türkei bezeichnen, sogar noch wesentlich mehr als die direkte Demokratie der Schweiz (9,5%). Nur 4,3% wünschen ein Präsidialsystem wie in den USA, 0,3% ein semipräsidentielles System wie in Russland.