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Kolumnen

Entnazifizierung und Befreiung von braunen Gedanken sind möglich

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Kamen die Verbrechen der neonationalsozialistischen Terrorzelle aus dem Nichts heraus oder sind sie Ausdruck brauner Kontinuitäten und Einstellungsmuster innerhalb der Bevölkerung? Yasin Baş stellt die Frage, was jetzt zu tun ist. (Foto: reuters)

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Entnazifizierung und Befreiung von braunen Gedanken sind möglich
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Die einen sehen sie als Märtyrer. Für die anderen sind sie nur die Spitze eines Eisbergs und nur das, was von rechtsextremistischen Umtrieben sowie der braunen Unterwanderung einiger Behörden offen zu Tage trat. Vor etwa einem Jahr wurde die rechtsterroristische Neonaziorganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) aufgedeckt. Von ihren Protagonisten Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe ist nur noch Zschäpe am Leben. Diese drei Personen sollen zwischen 2001 und 2006 aufgrund ihrer rassistischen Ideologie neun Menschen kaltblütig ermordet haben und 2007 eine Polizeibeamtin – anscheinend ohne jegliche professionelle Unterstützung und ohne das Wissen jener, die es hätten wissen müssen.

Dabei hatten die NSU-Mitglieder gefälschte Ausweispapiere bei sich, die man nicht einfach so nachbilden kann. Sie kamen an Geld, Waffen, Sprengstoff, technisches Material und – besonders gravierend – an nützliche Tipps und sogar als geheim eingestufte Informationen. Von wem diese gefährliche Terrororganisation ihre logistische, finanzielle und nachrichtendienstliche Hilfe erhielt, wird zurzeit in mehreren Untersuchungsausschüssen deutscher Landtage sowie des Bundestages erforscht.

Entnazifizierung fehlgeschlagen?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt. Im Westen haben die Alliierten das Experiment gewagt, ein Sicherheitssystem aufzubauen, das einem neuen, demokratischen Staat dienlich sein sollte. Im Osten änderte sich durch die Sowjets, die das braune Schreckenssystem lediglich durch eine rote, totalitäre Herrschaft ablösten, nicht wirklich viel.

Da im NS-Staat Millionen Menschen in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) eingetreten und selbst viele, die dies anfangs nur aus Opportunismus heraus getan hatten, zu überzeugten Nazis geworden waren, gestaltete sich die Suche nach geeigneten Personen, besonders für den Aufbau von Sicherheitsbehörden, etwas kompliziert. Ein Großteil der Eliten und Behördenmitarbeiter, vor allem im Auswärtigen Amt (AA), den Sicherheitsdiensten, Ministerien, Gerichten, Universitäten und Verwaltungen waren „neue alte Nazis“. Kurz: In Wirtschaft, Politik, Staat, Presse, Polizei, Verwaltung, Wissenschaft, Armee und Justiz konnten sich nicht nur alte Demokraten der Weimarer Republik, sondern auch viele Nazis einnisten. Diese konnten sich – nicht selten mit einer neuen Identität ausgestattet – frei bewegen, nicht nur aufgrund guter Beziehungen und weil sie gewiss über das nötige Wissen und die Erfahrung verfügten, die für ihre Arbeit nötig waren, sondern auch wegen ihren antimarxistischen Einstellungen, die vor allem angesichts des heraufziehenden Kalten Krieges wieder zu einem Pfund wurden, mit dem man wuchern konnte.

Laut Schätzungen der CIA waren noch bis in die 1970er-Jahre ein Drittel der Mitarbeiter des (aus der Organisation des Ex-Wehrmachts-Generalmajors Reinhard Gehlen gegründeten) BND ehemalige Mitglieder elitärer Naziorganisationen. Die Journalistin Katja Tichomirowa berichtet, dass die Leitungsebene des Bundeskriminalamts (BKA) 1959 noch zu 56 Prozent aus ehemaligen SS-Mitgliedern und zu 75 Prozent aus früheren Mitgliedern der NSDAP zusammengesetzt war. Dies alles konnte trotz der viel beachteten Bemühungen der Befreiungsmächte zur Entnazifizierung geschehen – also obwohl jede Anwärterin und jeder Anwärter auf einen Posten im Staatsdienst beweisen musste, dass sie und er keine nationalsozialistische Vergangenheit gehabt hatte und der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung gegenüber nicht feindlich gesinnt war. In diesem Kontext riefen vor allem in den letzten Jahren diverse Großunternehmen, aber auch Behörden wie das Auswärtige Amt oder das BKA Forschungsgruppen ins Leben, insbesondere zur Untersuchung ihrer eigenen Vergangenheit.

Parallelen mit „Gladio“?

Die Vernichtung von Akten, fast wöchentlich neue unerklärliche Ungereimtheiten, die vor dem NSU-Untersuchungsausschuss zu Tage treten oder die Mitgliedschaft einzelner Beamter im rassistischen Geheimbund „Ku-Klux-Klan“ sowie weitere Mitgliedschaften von Sicherheitsleuten in rechtsextremistischen Organisationen verleiten Kenner und Experten dazu, Parallelen mit den Aktionen der NATO-Geheimarmee „Gladio” zu ziehen. Es wurde zwar gegenüber der Öffentlichkeit noch nie offiziell eingeräumt, gilt aber weithin als wissenschaftlich nachgewiesen, dass im Kalten Krieg rechtsextremistische und antikommunistische Netzwerke innerhalb oder zumindest mit Wissen von Sicherheitsbehörden bzw. deren Duldung aufsehenerregende und teils blutige „Aktionen” durchführten.

So sollen im „tiefen Staat“ verankerte „Gladio“-Netzwerke am Bombenanschlag auf den Bahnhof im italienischen Bologna 1980 mit 85 Toten genauso beteiligt gewesen sein wie am Attentat auf das Münchner Oktoberfest 1980, wo 13 Menschen starben und über 200 schwer verletzt wurden. In Griechenland, Belgien, Türkei, Schweiz und Österreich gab es ähnliche „Gladio“-Strukturen. Diese Aktionen wurden damals zu Beginn reihenweise „linken” oder kommunistischen Gruppierungen zugeordnet. Die Urheber wurden bewusst verschleiert. Aber was war bei den NSU-Morden? Welche Menschen wurden nach den Taten der NSU anfangs verdächtigt? Meist wurde von „rivalisierenden türkischen Gruppen” gesprochen. Desinformation stand also in beiden Fällen im Vordergrund. Sowohl damals als auch heute wurden diese verbrecherischen Taten aber nachweislich von rechtsextremistischen Zellen ausgeführt. Es wurde nachgewiesen, dass die Täter damals in Verbindung mit den verschiedenen antikommunistischen, westlichen Nachrichtendiensten und der NATO-Geheimarmee „Gladio“ standen. Daniel Ganser hat dies in seiner Doktorarbeit an verschiedenen europäischen Ländern exemplarisch aufgezeigt. Es erscheint als durchaus beachtlich, dass dieser Wissenschaftler noch am Leben ist.

Besorgniserregende Studien

Es ist erschreckend, dass aus dem Antisemitismusbericht der Bundesregierung hervorgeht, nicht weniger als 20 Prozent der deutschen Bevölkerung würden antisemitische Einstellungen aufweisen. Noch erschreckender sind die Ergebnisse der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) „Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012“. Mehr als ein Drittel (36 Prozent) der Befragten stimmte explizit „islamfeindlichen Aussagen“ zu. Fast 61 Prozent, also mehr als die Hälfte der Befragten, bejahten „islamkritische Aussagen“. Islamkritik ist zwar nicht in jedem Fall mit Rassismus und Islamfeindlichkeit gleichzusetzen. In der FES-Studie wird aber deutlich, dass 70 Prozent aller Befragten mit islamkritischen Auffassungen zusätzlich auch Ressentiments gegenüber dem Islam und Muslimen insgesamt pflegen. Die Grenzen zwischen Islamkritik, Islamfeindlichkeit und Rassismus sind folglich fließend. Hier wird auch deutlich, dass Rechtsextremismus und Islamfeindlichkeit nicht ein Problem von Menschen in bestimmten geografisch bestimmten Landesteilen (z.B. im Osten) oder von politisch-ideologisch festgelegten Personen ist, sondern dass diese menschenverachtenden Denkstrukturen in die Mitte der deutschen Bevölkerung eindringen. Wir haben es schließlich mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun, das in allen Schichten vorherrscht und weder politische, noch geografische, noch bildungsbezogene Grenzen kennt.

Hoffnungsvoller Mentalitätswandel

Daneben gibt es aber auch, besonders in den letzten Jahren, in einigen Behörden zahlreiche positive Entwicklungen. Sie haben zwar etwas verspätet, aber dennoch erkannt und endlich auch verinnerlicht, dass Verschiedenheit in ihren Amtsstuben der Gesellschaft und Demokratie mehr nützt als schadet. So versucht beispielsweise die Polizei, in verschiedenen Bundesländern eine Diversitätsoffensive bzw. eine interkulturelle Öffnung zu verwirklichen. In einer Pressemitteilung der nordrheinwestfälischen Polizei heißt es über das Personal mit Einwanderungsgeschichte exemplarisch: „Diese Kolleginnen und Kollegen sind eine Bereicherung für die Polizei NRW. Die Kenntnisse, Kompetenzen und Fähigkeiten dieser Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen mit, die Einsatzbewältigung zu optimieren. […] Ziel dieser Veranstaltung ist die Steigerung der interkulturellen Kompetenz in der Polizei NRW in einer immer interkultureller werdenden Gesellschaft.“

Migrantenquote als Chance

Ergänzt werden könnten diese hoffnungsvollen Schritte in den Behörden durch eine Migrantenquote. Was für Frauen angedacht wird und nun auch durch die Europäische Union verpflichtend werden soll, könnte auch für Einwanderer und deren Nachfahren in Geltung gesetzt werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Einstellungspraxis von Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus der ehemaligen Sowjetunion im öffentlichen Dienst. Es bedarf daher mehr Anstrengung durch die Verantwortlichen, Menschen im öffentlichen Dienst zu beschäftigen, die keine deutschen Vorfahren oder „deutsches Blut“ haben. Auch wenn die Kritiker solch einer Quotenregelung meinen, dieses System könne eine stigmatisierende Funktion haben und Menschen auf ihre Herkunft reduzieren, sie ist – zumindest vorübergehend – eine bessere Lösung als überhaupt keine.

Autoreninfo: Yasin Bas ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”.