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Politik

Erdoğan allein in seinem Terrorwahn

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Verhaftung in Hakkari
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In Istanbul haben Terroristen heute Morgen mindestens elf Menschen in den Tod gerissen. Allein in der Metropole am Bosporus war es der fünfte Terroranschlag innerhalb eines Jahres. Zählt man die verheerenden Anschläge der letzten Monate in Ankara, Suruç oder Diyarbakır hinzu, so wird augenscheinlich, dass die türkische Regierung das Terrorproblem nicht in den Griff bekommt. Attentäter von IS, TAK und PKK reißen in erschreckender Regelmäßigkeit Unschuldige in den Tod und die türkischen Behörden schaffen es nicht, sie davon abzuhalten. Dabei galten türkische Sicherheitskräfte noch vor wenigen Jahren als führend. Selbst Terrorexperten aus den USA und Großbritannien kamen an den Bosporus, um sich schulen zu lassen.

Doch die Prioritäten haben sich geändert. Nicht nur sitzen führende Terrorexperten mittlerweile selbst im Gefängnis, sondern die Antiterroreinheiten konzentrieren sich auf andere Ziele: Sie verhaften die Betreiber von Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, Unternehmen und sozialen Einrichtungen, weil sie einer ominösen „Fethullahistischen Terrororganisation“ angehören sollen. Einer Terrororganisation, für deren Existenz bisher noch kein einziger juristischer Beweis vorgelegt wurde, bei der noch nie ein Anschlagsplan, geschweige denn auch nur eine einzige Waffe oder gar Sprengstoff gefunden wurden.

Auch im Fastenmonat Ramadan machen Recep Tayyip Erdoğan und die AKP-Regierung keinen Halt bei ihrem Kampf gegen Unterstützer der Hizmet-Bewegung des gemäßigten muslimischen Predigers Fethullah Gülen. Am gestrigen Montag – dem ersten Fastentag – wurden in mehreren Städten Razzien durchgeführt, bei denen 59 Personen verhaftet wurden, unter ihnen viele Unternehmer.

Erdoğan verzichtet auf Gesetze

Seit dem Beginn der „Hexenjagd“, wie Erdoğan seinen Kampf gegen die Bewegung selbst nennt, wurden laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in den vergangenen zwei Jahren 4011 Hizmet-nahe Personen verhaftet. 822 von ihnen sitzen im Gefängnis ohne genau zu wissen, was ihnen vorgeworfen wird. Allein diesen Mai wurden bei Razzien in Einrichtungen der Hizmet-Bewegung oder gegen Geschäftsleute, die die Arbeit der Bewegung unterstützen, 865 Personen verhaftet, von denen sich 193 immer noch in U-Haft befinden.

Dem Journalisten Ruşen Çakır zufolge gibt es in der jüngeren Geschichte der Türkei keine andere muslimische Bewegung, die vom Staat so hart unterdrückt und verfolgt wurde wie aktuell die Hizmet-Bewegung um den Prediger Fethullah Gülen. Dass dieser Kampf von einem Politiker geführt wird, der von sich behauptet, dem Islam zu dienen, sei eine weitere Absurdität dieses Falles. „Anders wäre er auch nicht erfolgreich gewesen“, so das Fazit von Çakır.

Tatsächlich führten die säkularen Kräfte um das kemalistische Militär jahrzehntelang einen politisch motivierten Kampf gegen die muslimische Zivilgesellschaft und religiöse Orden. Nach ihrer Vorstellung von Laizismus hatte Religion im öffentlichen Raum nichts zu suchen. Sie nannten es „Iritica ile Mücadele“ – „Kampf gegen Irtica“. Das aus dem Arabischen stammende Wort „irtica“ bedeutet wörtlich „Rückständigkeit“ und fand Anfang des 20. Jahrhunderts Eingang in die türkische Politik. Der Straftatbestand war in Paragraf 163 des türkischen Strafgesetzbuchs definiert. Der als fromm geltende Ministerpräsident Turgut Özal strich ihn vor etwa 30 Jahren gemeinsam mit den beiden Paragrafen 141 und 142, die vielen linken Gruppen in der Türkei zum Verhängnis wurden, ersatzlos. Seitdem versucht das Militär – oder besser gesagt: orthodox-säkulare Kräfte – Ersatzparagrafen einführen zu lassen. Aber mit wenig Erfolg.

Die Kemalisten versuchten wenigstens noch, ihre Untaten auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen, da sie keinen starken Rückhalt im Volk hatten. Erdoğan versucht das erst gar nicht. Er hat schließlich die Massen auf seiner Seite. Anstelle von „irtica“ hat er das Wort „Parallelstruktur“ eingeführt und ist bemüht, um diesen Begriff herum (der sich übrigens in keinem Gesetzestext findet) eine eigene Realität zu konstruieren. Seine Realität. In dieser Realität ist die Hizmet-Bewegung eine Terrororganisation – Basta! Erdoğan zufolge haben alle – die Gerichte, der Nationale Sicherheitsrat, die Regierung und die Medien – seinem Entschluss Folge zu leisten. Der Politikwissenschaftler Sedat Laçiner spricht von bis zu 400 000 Menschen, die wegen ihrer Nähe zu Hizmet-Bewegung angeklagt werden könnten. Die Zahl mag überraschen. Wenn man sich aber anschaut, was Erdoğan und sein Beraterstab im Palast in den vergangenen Jahren umgesetzt haben, sollte man die Warnung von Laçiner ernst nehmen.

Auch wenn Experten und Kritiker davor warnen, dass der von Erdoğan etablierte Terror-Diskurs eines Tages auch gegen ihn persönlich und seine AKP eingesetzt werden könnte, interessiert ihn das kaum. In der Türkei ändern sich die politischen Verhältnisse alle 10 bis 15 Jahre so sehr, dass aus ehemaligen Helden sehr schnell Verräter werden können. Die Hizmet-Bewegung ist das beste Beispiel hierfür.

Auch wenn Erdoğan den ganzen Staatsapparat mobilisiert, um seinen Terrorwahn Wirklichkeit werden zu lassen, ist er damit doch allein. Ein Istanbuler Gericht hat entschieden, dass eine Terrororganisation namens FETÖ/PDY – so der von Erdoğan eingeführte Sprachgebrauch für die Hizmet-Bewegung – nicht nachweisbar existiert. Auch das Ausland spielt das Spiel nicht mit. Weder Washington noch Berlin wollen Erdoğans Terror-Interpretation der Hizmet-Bewegung folgen.

Kopfschütteln in Berlin und Washington

Als die Bundesregierung kürzlich eine kleine Anfrage von Ulla Jelpke (Die Linke) beantwortete, stellte sie klar: Bei der Hizmet-Bewegung handelt es sich nicht um eine Terrororganisation. Die Antwort des Sprechers des US-Außenministeriums John Kirby hört sich nicht viel anders an. Nachdem Erdoğan erklärte, dass er die Bewegung als Terrororganisation einstufen wolle „genauso wie die PKK“, wurde er gefragt, was die US-Regierung von dem Plan des türkischen Staatspräsidenten, der wie zuletzt auf seiner Afrika-Reise auch alles daran setzt, die Bewegung international in Bedrängnis zu bringen, hält. Die Antwort des US-Diplomaten war kurz und knapp: „Wir stufen sie nicht als Terrororganisation ein.“

Im Brüssel ging man einen Schritt weiter. Die EU erklärte, dass sie die Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrats „mit Sorge vernommen“ habe. Die Sprecherin der EU-Kommission, Maja Kocijancic, sagte, dass es sich bei der Türkei um einen Mitgliedskandidaten der EU handele und man bei jeder Gelegenheit die „Einhaltung von demokratischen Standards“ einfordern werde. Rebecca Harms, die für Bündnis ’90/Die Grünen im Europaparlament und in dessen Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten sitzt, kritisiert das Vorgehen der türkischen Machthaber noch schärfer: „Erdoğans Regierung missachtet bewusst die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, indem er nun gänzlich ohne Gerichtsverfahren und Entscheidung die Gülen-Bewegung zur Terrororganisation erklärt.“ Das dürfe die EU in ihrer Zusammenarbeit mit der Türkei nicht hinnehmen, denn: „Das Vorgehen gegen die Gülen-Bewegung kann einen Präzedenzfall schaffen und den Weg ebnen für weitere Schläge gegen Kritiker des Präsidenten. Die EU-Kommission muss diese Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit umgehend in ihren Gesprächen mit der Türkei zum Thema machen.“ 

Aber Stimmen aus dem Ausland lassen Erdoğan bekanntlich ohnehin kalt. Worum es ihm geht, ist die Instrumentalisierung des Terror-Diskurses für die Innenpolitik. Wie dadurch die Bekämpfung echten Terrors beeinträchtigt wird – und wie viele Menschenleben das im Endeffekt kostet – scheint für ihn zweitrangig zu sein.