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Kolumnen

Die geschundene muslimische Seele und die Entdeckung Amerikas

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Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bereichert uns in diesen Tagen mit einer neuen Erkenntnis: Bei einem Gipfeltreffen mit lateinamerikanischen Muslimen in Istanbul behauptete er, Amerika hätten in Wahrheit Muslime entdeckt; und zwar viel früher als Kolumbus, der 1492 zufällig seinen Fuß auf den Kontinent setzte, aber glaubte, er hätte Indien erreicht.

Was will uns Erdoğan denn eigentlich sagen – jetzt unabhängig mal von der Frage, dass in Wissenschaftskreisen auch die Behauptung erhoben wird, um das Jahr 1000 hätten auch die Wikinger ihren Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt? Und: Was hat es mit dem angebotenen Moscheebau in Kuba auf sich? Dort leben doch kaum Muslime.

Um diese Fragen zu beantworten, muss man zweierlei Dinge berücksichtigen: Zum einen die muslimische Seele und zum anderen die aktuelle politische Situation um Erdoğan.

Balsam auf die muslimische Seele

In vielen muslimischen Haushalten gibt es Lexika mit Titel wie „Lexikon Führender Muslimischer Gelehrter“ oder ähnliches. Dabei geht es nicht um Wissenschaftler im Hier und Jetzt, sondern im Mittelalter. In diesen Lexika werden muslimische Wissenschaftler und ihre Erkenntnisse, Werke, Lebensläufe vorgestellt, Wissenschaftler, die Bahnbrechendes geleistet haben und ihrer Zeit voraus waren. Diese Lexika wollen vor allem eines aussagen:

Muslime waren damals weiter, viel weiter als die Europäer!

Was ja auch stimmt. Niemand bestreitet das. Muslime waren vermutlich bis Anfang der Neuzeit viel weiter als die Europäer.

Diese Lexika sind zugleich Balsam auf die geschundene, von Minderwertigkeitskomplexen geplagte muslimische Seele. Sie wollen zeigen, um die Muslime stand es nicht immer so schlecht. Es gab auch eine Zeit, wo sie oben standen. Insofern ist die Aussage von Erdoğan ein durchaus kluger Schachzug.

Dass er damit die Herzen breiter Massen gewinnt, mit dem angebotenen Moscheebau in Kuba islamischen Weltführer spielt, liegt auf der Hand. Solche Aussagen und Gipfeltreffen machen natürlich Eindruck auf Menschen, die sich kaum Auslandsreisen leisten können, entweder aus Mangel an Geld, an einem Visum oder an beidem.

Innenpolitischer Nutzen

Der tagespolitische Aspekt: Erdoğan steht unter Rechtfertigungsdruck. Den Palastbau nehmen ihm viele übel. Andererseits liegen mehr als die Hälfte der 18 verunglückten Bergleute in Ermenek immer noch unter Tage, ohne dass in den vergangenen drei Wochen zu ihnen durchgedrungen und ihre Leichen geborgen werden konnten. Mit welchem anderen Thema kann man in dieser Lage die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken als mit einem Gipfeltreffen mit lateinamerikanischen Muslimen, mit einer Aussage, die die Weltgeschichte in Frage stellt?

Hier muss aber auch die Frage gestellt werden, ob denn diese Aussage auch praktisch etwas bewirkt. Geschichte kann bei der Orientierung auf die Zukunft helfen, aber leben tut man doch in der Gegenwart, hoffend in Richtung Zukunft. Was können Einwohner des Landes aus der Aussage für die Gegenwart mitnehmen, dass Amerika von den Muslimen entdeckt wurde? Wird dadurch der Lebensstandard erhöht, die Demokratie vorangebracht? Spielt die türkische Fußball-Nationalmannschaft erfolgreicher?

Was die Verteilung der Nobelpreise aussagt

Neulich gab es vor dem Brandenburger Tor eine Kundgebung gegen Antisemitismus – unter anderem mit Beteiligung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Eine der Demonstrationen hielt ein Plakat mit einem bedenkenswerten Inhalt hoch:

2.26 Milliarden Christen: Über 700 Nobelpreise…

14 Millionen Juden: Über 193 Nobelpreise…

1.6 Milliarden Muslime: 9 Nobelpreise…

Ja, es stimmt. Diese Angeberei ist irgendwie abstoßend. Vermutlich ist auch der, der dieses Plakat hochhält, von Wissenschaftskreisen so weit entfernt wie der Kiosk-Viel-Trinker aus dem Dorf von der Universität in der Großstadt. Trotzdem wirft sie die Frage auf:

Welche Antworten haben die Muslime auf die Fragen der Gegenwart? Was müssten sie tun, damit die Aussage auf dem erwähnten Schilde des Demonstranten nicht so düster ausfällt? Man darf auch fragen: Was haben die Menschen von einer Moschee auf Kuba, wenn islamische Werte unter der real existierenden Politik Erdoğans praktisch ausbluten?

Worum es eigentlich heute geht?

Ich denke:

Die heute aktuelle Frage ist nicht, ob Amerika zuerst von Kolumbus oder davor von den Muslimen entdeckt wurde. Das kann uns eigentlich egal sein. In Besitz genommen wurde sie praktisch von auf Kolumbus folgenden Europäern.

Die aktuelle Frage lautet doch vielmehr: Warum entdeckt Erdoğan im Jahre 2014 immer noch nicht die Demokratie?

Kolumbus glaubte, er landete in Indien, obwohl er Amerika entdeckte. Erdoğan glaubt, er entdeckt Amerika, obwohl sein Schiff irgendwo auf die chinesische Ostküste zusteuert. Und das 522 Jahre nach Kolumbus.