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Erdoğan besucht kranken Putschgeneral

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Dass der Regierungschef und AKP-Vorsitzende ausgerechnet einen seiner unerbittlichsten politischen Gegenspieler im Krankenhaus besucht hat, eröffnet einmal mehr Raum für Spekulationen. (Foto: aa)

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Erdoğan besucht kranken Putschgeneral
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Premierminister Recep Tayyip Erdoğan hat wieder einmal gemacht, was er wollte und womit niemand gerechnet hätte. Vor einigen Wochen hat er der hungernden Analysten- und Kolumnistenherde den Shanghai-Knochen zugeworfen, um daran nagen zu können, nun hat er am vergangenen Wochenende ein neues Manöver gestartet, das Anlass zu wilden Spekulationen und hektischen Interpretationen führen sollte: Er besuchte den kranken General Ergin Saygun im Krankenhaus.

Der Premierminister und Parteichef der AKP hatte es bereits durch sein lautes Nachdenken über eine mögliche Mitgliedschaft in der Shanghai-Organisation geschafft, den Europäern Beine zu machen und eine neue Runde der Diskussion um Thema „EU-Mitgliedschaft“ zu starten. Einige Kommentatoren glauben nun wirklich daran, dass der Regierungschef auf die EU-Mitgliedschaft verzichten will, während andere davon überzeugt sind, dass diese Erklärungen nur als Druckmittel gegen die EU angewendet werden sollen.

Dass Erdoğan nun Saygun – den aufgrund seiner Rolle im Balyoz-Putschplan, der zum Sturz der Regierung führen sollte, vor einigen Monaten zu 18 Jahren Haft verurteilten General – nach seiner Herzoperation besucht hat, führte erneut zu einer Welle von Spekulationen. Der AKP-Chef hat einmal mehr dafür gesorgt, dass die Kolumnisten wieder einmal nur über ihn schreiben.

Signal zur nationalen Versöhnung?

Warum sollte sich Erdoğan eines seiner verschworenen Feinde, der sogar versucht hatte, ihn zu stürzen, jetzt mit einem Mal erbarmen? Einige deuten den Besuch bereits als Signal in Richtung einer nationalen Versöhnung bis hin zur Eröffnung einer Amnestiedebatte. Erdoğan habe demnach gezeigt, dass er bereit sei, Saygun und den anderen Putschgenerälen zu verzeihen, was ein kostengünstiges Manöver wäre, um die ehemaligen Feinde zu neutralisieren und eine Garantie zu erhalten, dass das Militär sich einer Lösung in der Kurdenproblematik nicht verschließen würde.

Die Financial Times wiederum meint, Erdoğan habe die Angst, dass die Verhaftung von Hunderten von Offizieren und ehemaligen Offizieren die Kapazität des Militärs schwächen würde und den Besuch mit seinen Unmutsäußerungen mit Blick auf das langsame Voranschreiten der Prozesse gegen die Putschgeneräle in Verbindung gebracht.

Die Bezugnahme der FT auf die Rücktritte einiger hochrangiger Offiziere in letzter Zeit scheint die Tatsache zu bestätigen, dass die Geduld von Erdoğan und Gül enden wollend ist. Insofern kann der Besuch Sayguns als Botschaft Erdoğans dahingehend interpretiert werden, dass er keinen weiteren Autoritätsverlust der Armee wünscht. Es könnte nun geschehen, dass die Politik sich darum bemühen wird, die Generäle, die auf ihr endgültiges Urteil warten, schnellstmöglich zumindest aus der Haft zu befreien.

Dieser Denkansatz eröffnet jedoch wiederum eine neue potenzielle Auslegung. Sollte die Regierung im weiteren Verlauf das vorgelegte vierte Paket zur Justizreform annehmen, werden im Anschluss, wenn schon nicht Tausende, dann zumindest Hunderte Gefangene freigelassen. Das Spektrum der Begünstigten würde dann von Balyoz- und Ergenekon-Protagonisten bis hin zu Hunderten von kurdischen Terroristen reichen, welche im Rahmen des KCK-Prozesses festgenommen worden waren.

Dass so viele Kurden freikommen, wird von den kurdischen Nationalisten wohl mit Zufriedenheit aufgenommen werden und mit großer Wahrscheinlichkeit eine Einigung mit der PKK im Frühling begünstigen. Türkischen Nationalisten wird diese Entwicklung massiv missfallen. Deshalb dürfte Erdoğan durch ein Entgegenkommen den Militärs gegenüber auch in diese Richtung Signale in Richtung Entspannung aussenden wollen, um bereits im Vorfeld zu verhindern, dass die nationalistischen Ressentiments sich in naher Zukunft durch Gewalt Luft verschaffen oder in eine offene Rechnung bei den nächsten Wahlen verwandeln.

Geordnetes Miteinander?

Dass Erdoğan Saygun unter die Arme greift, ist meiner Meinung nach Teil einer seit 2011 beginnenden, allgemeinen Normalisierung der Beziehungen zwischen dem Premierminister und der Armee. Nach dem dritten Wahlsieg der AKP wissen sowohl Erdoğan als auch die Armee, dass die früheren Zeiten der militärischen Vormundschaft über Staat und Gesellschaft endgültig Vergangenheit sind und nicht mehr wiederkehren werden.

Das Militär hat die Überlegenheit der AKP akzeptiert und Erdoğan stellt als Gegenleistung eine Zusammenarbeit in Aussicht, um den Rest an Autorität und das Ansehen des Militärs so gut wie möglich zu retten. Das erklärt aber auch, warum das Uludere-Ereignis nie richtig untersucht wurde und eine Reihe von demokratischen Reformen in diesem Bereich am Ende doch nicht institutionalisiert wurden.

Auch dafür, dass der Verteidigungshaushalt unter die Kontrolle des Parlaments gebracht wird, gibt es immer noch keine Garantie. Und die Kontrolle der Gerichte über die militärischen Ausgaben wurde nach einer Intervention des Verfassungsgerichts aufgehoben – in weiterer Folge hat die Parlamentsmehrheit der AKP das Militär von solchen Rechenschaftsverpflichtungen gegenüber der Öffentlichkeit befreit.

Letzte Woche hat das Deutsche Institut für Internationale Politik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) einen sehr informativen Bericht über die erfolgreichen Geheimverhandlungen des ägyptischen Militärs mit dem dortigen Staatspräsidenten Mohammed Mursi veröffentlicht. Das Militär hat auf einen großen Teil seiner politischen Handlungsoptionen verzichtet, doch ist es ihm gelungen, gegenüber Manövern, die mehr Transparenz und zivile Kontrolle schaffen sollen, wirksam einen Damm zu errichten. Zum Beispiel prolongiert die ägyptische Verfassung nun den Schutz der gewaltigen Wirtschaftsinteressen des Militärs fort. Das Ergebnis des SWP klingt so vertraut, dass die Alarmglocken läuten müssten: „Momentan haben die militärischen Institutionen und der Präsident eine Art des geordneten Zusammenlebens entwickelt, die von der Überlegung ausgeht, beide Parteien können nicht ohne die jeweils andere.“

Natürlich gibt es zwischen Ägypten und der Türkei große Unterschiede und Erdoğan befindet sich im Vergleich zu Mursi in einer viel besseren Position. Doch die Bekämpfung der Reformen und der Status Quo mit Blick auf die zivile Kontrolle über das Militär sollte den Demokraten beider Staaten zu denken geben.

Autoreninfo: Joost Lagendijk ist ein niederländischer Politiker und lebt seit 2009 in der Türkei. Seit Juli 2009 ist er in Istanbul als Berater am Istanbul Policy Center of Sabancı University tätig und Mitglied im Beirat der Denkfabrik European Policy Centre und im Fachbeirat Europa-Transatlantik der Heinrich-Böll-Stiftung. Er schreibt seit Oktober 2010 als Kolumnist in den Zeitungen Today’s Zaman und Zaman.