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Politik

Erdoğan geht aufs Ganze

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Wenn die Opposition mitspielt und ihre Chance darin erblickt, könnten Präsidenten-, Parlaments- und Kommunalwahlen an einem einzigen Tag im Juni 2014 stattfinden. Für die AKP ein hohes Risiko. Ein Selbstläufer wird diese Wahl nicht mehr. (Foto:cihan)

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Erdoğan geht aufs Ganze
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Der Türkei steht 2014 ein heißer Sommer bevor. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden an einem einzigen Tag gleich drei wichtige Urnengänge stattfinden. Dabei wird entschieden, wer der nächste Staatspräsident und der nächste Premierminister sein wird. Darüber hinaus werden Tausende Bürgermeister und Kommunalparlamente im ganzen Land bestimmt.

Dieses „Drei auf einen Streich“-Szenario scheint für die regierende AKP am günstigsten zu sein, die derzeit eine schwere Zeit mit zahlreichen innenpolitischen Problemen, Unzufriedenheit unter vielen Wählern und verstörten Abgeordneten in den eigenen Reihen durchmacht. Das Ergebnis dieser Wahlen wird sowohl innen- als auch außenpolitisch wichtige Weichenstellungen für die Türkei mit Blick auf die Zukunft beeinflussen.

Die genauen Wahltermine werden noch durch die Oberste Wahlkommission bekannt gegeben. Der Amtsinhaber Abdullah Gül war am 28.8.2007 gewählt worden, nach geltendem Verfassungsrecht muss der neue Präsident mindestens 60 Tage vor Ende der Amtszeit, also spätestens im Juni, gewählt werden. 2014 wird der Staatspräsident erstmals vom Volk gewählt.

Die Parlamentswahlen wären ursprünglich erst für Juni 2015 anberaumt. Allerdings könnte die AKP in der Großen Nationalversammlung versuchen, auch diese auf Juni 2014 vorverlegen – wobei sogar, falls die Opposition sich Chancen ausrechnen sollte, auch deren Stimmen dafür sorgen könnten, ohne verfassungsrechtliche Schwierigkeiten den Weg dafür frei zu machen.

Innerparteiliche Risiken ausbremsen

Auf Grund der Bestimmung des Artikels 127 der Verfassung müssen zudem die Lokalwahlen am gleichen Tag wie die Parlamentswahlen abgehalten werden, sollten diese zu einem Termin innerhalb eines Jahres vor oder nach deren Termin vorgesehen sein. Dies würde auch die Kommunalwahlen auf den gleichen Tag fallen lassen.

Zuletzt hatte die AKP 2009 auf regionaler Ebene 39% der Stimmen gewinnen können, etwas weniger als 2007 zu den Parlamentswahlen, wo man auf 47% kam. Es wäre auch im nächsten Jahr unwahrscheinlich, dass die Regierungspartei kommunal auf jene 49% kommen könnte, die für sie 2011 bei den Parlamentswahlen zu Buche schlugen.

Mit einer Zusammenlegung der Wahltermine könnte die AKP mehrere Fliegen mit einer Klappe erledigen. Es würde die Neigung in der Bevölkerung, Erdoğan einen Denkzettel zu verabreichen, abgeschwächt und es könnte zudem der Gefahr gegengesteuert werden, dass einige Abgeordnete der AKP, die unzufrieden sind und nach dem Parteistatut nach drei Wahlperioden nicht mehr kandidieren dürften – und das betrifft 70 Personen, die zum Teil zu den politischen Schwergewichten zählen -, sich auf Kosten ihrer früheren Partei mit einem eigenen Wahlvorschlag selbstständig machen könnten. Stattdessen könnte Erdoğan sie auf Bürgermeister- oder Diplomatenposten wegloben.

Unzufriedenheit in Teilen der eigenen Wählerschaft

Um diese Strategie tatsächlich in einen Erfolg ummünzen zu können, wäre es allerdings erforderlich, dass der Regierungschef sich kompromissbereit zeigt und eine Wahlplattform auf die Beine stellt, die seine Partei in einer umfassenden Bandbreite darstellt. Dazu muss er Liberalen, Nationalisten, Konservativen, Kurden und vielen mehr auch politisch und programmatisch ein klares Angebot machen. Derzeit macht er diesen Eindruck nicht, sondern er belastet diese große innerparteiliche Koalition durch einen Schmusekurs gegenüber den Anhängern der rigiden Milli-Görüş-Plattform, die bei Wahlen in etwa für 5% gut ist, aber diese möglicherweise in der Mitte wieder verprellt. Auch die eher nationalistisch orientierten Kräfte innerhalb der AKP und ihrer Wählerschaft wanken – ihnen stößt vor allem die Verhandlungspolitik gegenüber Öcalan und der PKK auf. Liberale wiederum beklagen den stockenden EU-Beitrittsprozess, Konservative hingegen vermissen Transparenz in der Regierung und eine strengere Ausgabendisziplin der öffentlichen Haushalte.

Was außerdem noch für Spannung und auch Spannungen sorgen kann, ist die ungeklärte Zukunft des derzeitigen Staatspräsidenten Abdullah Gül. Es ist unklar, ob es eine Abmachung hinsichtlich einer Rochade oder Machtteilung gibt, die Erdoğan ins Präsidentenamt rücken und Gül zum Premierminister machen würde. Erdoğan dürfte sich als Nachfolger eher einen loyalen Gefolgsmann wie den früheren Parlamentssprecher Mehmet Ali Şahin wünschen. In diesem Fall könnte Gül allerdings Laune verspüren, noch einmal selbst für das Präsidentenamt zu kandidieren – was sogar noch für einen dritten Kandidaten Chancen eröffnen könnte. Allerdings ist davon auszugehen, dass es Gül und Erdoğan wie bereits bei früheren Gelegenheiten gelingen könnte, einen Deal zu finden.

Durch die angekündigten Massenkundgebungen eigener Anhänger in Istanbul und Ankara erhöht Erdoğan das Wagnis und mobilisiert seine eigene Anhängerschaft, um eine klare Botschaft an seine Gegner auszusenden. Er will deutlich machen, dass er immer noch über Strahlkraft verfügt, auch wenn sein Charisma in den letzten Jahren Kratzer abbekommen hat.

Banken als neues Schreckgespenst?

Heute, da immer mehr Menschen die politische und wirtschaftliche Stabilität des Landes als selbstverständlich betrachten und die Krisenjahre bis 2001 vergessen haben, braucht Erdoğan eine neue Botschaft, die seine Anhänger mobilisiert. Möglicherweise werden deshalb unter dem Begriff „Zinsenlobby“ die Banken zum neuen Feindbild aufgebaut. Auf diese Weise spräche er zahlreiche Menschen im Lande an, die im Zuge des Aufschwungs in die Schuldenfalle geraten waren und ihre Hypotheken und Autokredite nicht mehr bedienen können.
Dies könnte jedoch auch nach hinten losgehen, da die Opposition darauf hinweisen wird, dass die privaten Schulden vor allem aus der Zeit der Regierung Erdoğan stammen und nicht zuletzt auch zwei staatliche Banken Milliarden an Kreditforderungen angesammelt haben. Erdoğan selbst dürfte sich allerdings einmal mehr auf die Schwäche der Opposition verlassen, die ihm auch bisher immer zugutegekommen war.

Wie auch immer: Er pokert hoch und testet seine Grenzen aus. Ohne eine klare, verständliche und breite Strategie, ohne einen Konsultationsmechanismus, der ihn vor Fehlern bewahrt, schafft er sich selbst seine eigene Opposition.