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Politik

Erdoğan: Der Held und Kämpfer

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Wer das Auftreten und den Stil des türkischen Premierministers Erdoğan verstehen will, kommt nicht umhin, auf die Anfänge seiner politischen Karriere in einer Zeit explodierender politischer Gewalt und latenter Bürgerkriegsgefahr zu blicken. (Foto: dha)

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Der türkische Premierminister Erdogan spricht im türkischen Parlament zu Ankara.
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Der türkische Premierminister Erdoğan hält sich aktuell in Berlin auf. Morgen wird er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammenkommen, am Abend hält er dann seine dritte Rede in Deutschland vor Deutschtürken im Berliner Tempodrom. An kaum einem Politiker der jüngeren Geschichte scheiden sich die Geister so sehr wie an dem charismatischen 59-Jährigen, der aktuell eine innenpolitische Krise zu bewältigen hat. Doch wie ist Erdoğan zu dem geworden, der er heute ist?

Dass Recep Tayyip Erdoğan nie ein Mann der lange Zeit die Türkei beherrschenden Elite sein würde, war ihm schon in die Wiege gelegt. Der Vater war Seemann und arbeitete als Küstenschiffer. Die Familie lebte im alten Istanbuler Hafenviertel Kasımpaşa, der spätere Premierminister wuchs mit drei Brüdern und einer Schwester dort und in Rize am Schwarzmeer auf.

Erdoğan besuchte eine İmam-Hatip-Schule, die für viele religiöse Familien zu jener Zeit eine willkommene Alternative zu den herkömmlichen öffentlichen Schulen war. Anschließend studierte er an der Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften der Istanbuler Marmara-Universität.

Bereits in seiner Jugend trat Recep Tayyip Erdoğan aktiv für die Sache des politischen Islam ein. In Zeiten ausufernder politischer Gewalt, extremistischer Untergrundorganisationen von links und rechts und des stetig über dem Land kreisenden Damoklesschwerts eines Militärputsches schloss sich Erdoğan dem „Verein der Vorkämpfer“, dem Akıncılar Derneği, an. Die Organisation wurde 1977 von Tevfik Rıza Çavuş als Jugendorganisation der Nationalen Heilspartei (MSP) gegründet und war damals vor allem ein erklärtes Feindbild für die Idealistenbewegung, die auf den aktiven Kampf gegen Kommunisten und Separatisten setzte und den politischen Islam in der Türkei als zu wenig national und zu verinnerlicht betrachtete.

Als Profifußballer wurde Erdoğan unter dem Spitznamen „Imam Beckenbauer“ bekannt. Im Jahre 1978 heiratete er Emine Gülbaran. Das Paar hat zwei Söhne und zwei Töchter. Sowohl Emine Erdoğan als auch ihre beiden Töchter tragen Kopftuch. Aus diesem Grund wurde Recep Tayyip Erdoğan als Politiker zu Zeiten der Bevormundung durch die Militärs stets nur alleine zu offiziellen Anlässen eingeladen. Die beiden Töchter hatten ein Studium in den USA aufgenommen, um das Verbot des Tragens von Kopftüchern an Universitäten zu umgehen.

Erdoğans politische Laufbahn ist eng mit Necmettin Erbakans Milli-Görüş-Bewegung und ihren politischen Organisationen verknüpft. Erbakans Parteien wurden immer wieder verboten und er selbst zum Ziel politisch motivierter Strafverfahren – wie die religiösen Orden und Tariqas verstanden es aber auch die politischen Aktivisten der „Nationalen Sicht“, ihre Strukturen aufrechtzuerhalten und sie trotz der allgegenwärtigen Repressalien funktionsfähig zu halten.

Gegen die Bakschischpolitiker und den „Geist von Beyoğlu“

Im Jahre 1994 gelang Recep Tayyip Erdoğan sein bis dahin größter Triumph. Er wurde zum Oberbürgermeister in Istanbul gewählt. Sein Sieg in der Metropole hatte einen hohen Symbolgehalt. Die Großstädte galten als die Hochburgen der westlich orientierten, „aufgeklärten“ Elite der „weißen Türken“, von dort aus steuerten die Protagonisten der kemalistischen Nomenklatura im Einklang mit dem Militär das System der Bevormundung gegenüber der unterprivilegierten Mehrheit der „schwarzen Türken“, die bereits in dieser Zeit nach den Özal-Reformen wirtschaftlich an Boden gewannen und nicht zuletzt Dank der Anstrengungen der Hizmet-Schulen auch bildungsmäßig die Voraussetzungen für einen weiteren Aufstieg schafften.

Istanbul zu verlieren war ein Menetekel für die alten Eliten. Erdoğans Erfolg war dabei nicht nur der zunehmenden Verschiebung der sozialen Gewichte im Land insgesamt zu verdanken, er war auch bedingt durch den Wunsch weiter Teile der Bevölkerung, mit den korrupten Bakschischpolitikern der staatstragenden Parteien abzurechnen und eine Konsequenz aus der erfolgreichen Arbeit der islamischen Verbände, die das Rückgrat der „Wohlfahrtspartei“ (Refah Partisi, RP) bildeten und dort als Ansprechpartner der Bevölkerung vorhanden waren, wo der Staat keine Rezepte anzubieten hatte. Erdoğan und die RP wurden auf der einen Seite von den frommen Aufsteigern gewählt, auf der anderen Seite von den ärmsten Bevölkerungsschichten.

Seine Amtszeit als Oberbürgermeister lieferte einen Vorgeschmack auf spätere Jahre als Premierminister. Auf der einen Seite standen ambitionierte Infrastruktur – und Modernisierungsprojekte, auf der anderen Seite die Abrechnung und Kampfansage an die Träger des Status Quo und den „Geist von Beyoğlu“, den areligiösen Lebensstil der urbanen Privilegierten.

Seit seiner Amtszeit wird in städtischen Lokalen kein Alkohol mehr ausgeschenkt. In privaten Kneipen darf nach wie vor getrunken werden. Die Europäische Union beschrieb er zu Beginn seiner Amtszeit als eine Vereinigung von Christen, in der Türken nichts zu suchen hätten.

Aufstieg und Fall der Refah

In diesen Jahren gelang auch der Refah der große politische Durchbruch. Nachdem man zuerst Provinzen wie Çorum, Yozgat, Tokat, Sivas, Kayseri, Kahramanmaraş und Konya erobern konnte, wurde Refah 1995 zur stärksten Partei in der Türkei wurde und wurde in ganz Zentral- und Ostanatolien zur stärksten Kraft. Die Partei war so stark geworden, dass ohne sie keine funktionsfähige Regierung mehr gebildet werden konnte.

Der postmoderne Putsch vom 28. Februar 1997, das Verbot der Wohlfahrtspartei und das Politikverbot für den Grandseigneur der Milli Görüş, der „Nationalen Sicht“, Necmettin Erbakan, sollte sich für die Militärs als Pyrrhussieg erweisen. Es brodelte innerhalb der Bevölkerung, im Umfeld der Milli Görüş wurde mit der Möglichkeit einer Revolution gerechnet.

Erdoğan selbst wurde 1998 vom Staatssicherheitsgericht Diyarbakır wegen Missbrauchs der Grundrechte und -freiheiten gemäß Artikel 14 der türkischen Verfassung nach Artikel 312/2 des damaligen türkischen Strafgesetzbuches (Aufstachelung zur Feindschaft auf Grund von Klasse, Rasse, Religion, Sekte oder regionalen Unterschieden) zu zehn Monaten Gefängnis und lebenslangem Politikverbot verurteilt. Anlass war eine Rede bei einer Konferenz in der ostanatolischen Stadt Siirt, in der er aus einem religiösen Gedicht, das Ziya Gökalp zugeschrieben wurde, zitiert hatte: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Am 24. Juli 1999 wurde Erdoğan aus der Haft entlassen.

Ein Großteil der Anhänger versuchte trotzdem, auf dem politischen Weg weiter für Veränderungen zu kämpfen. Die Fazilet Partisi (Tugendpartei – FP), die in der Nachfolge der RP gegründet wurde, ließ bereits erste programmatische Tendenzen in Richtung Reformpolitik und Öffnung zum Westen erkennen. Sie konnte zwar bei den Wahlen nicht an den überragenden Wahlerfolg von 1995 anknüpfen und wurde 2001 aus ähnlichen Gründen wie die FP verboten. Ihre mehr als 100 Abgeordnete starke Fraktion sollte zum Ausgangspunkt der späteren AKP werden – denn während nach dem FP-Verbot der harte Kern der Milli Görüş in die später bedeutungslose Saadet (Glückseligkeitspartei) ging, riefen Recep Tayyip Erdoğan, Abdullah Gül und Bülent Arınç als Reformer eine neue Partei ins Leben, die 2002 als breite Koalition aller Gegner des Bevormundungsregimes die Wahlen gewann.

Ein türkischer Gianfranco Fini und sein Programm der radikalen Modernisierung

Die Gründung der AKP 2002 und die politische Transformation Erdoğans erinnerten frappierend an die Situation wenige Jahre zuvor in Italien, wo der Vorsitzende des lange Zeit als außerhalb des Verfassungsbogens stehend geltenden, schwarzen MSI, Gianfranco Fini, diesen zu einer respektablen liberal-konservative Formation umgewandelt hatte. Auch hier war aus jener politischen Kraft, die auf Grund ihrer jahrzehntelangen vollständigen Ausgrenzung durch das Establishment keine Chance hatte, einen Platz in der Vetternwirtschaft einzunehmen, in dem Moment, da dieses auf Grund von Korruptionsskandalen in Schutt und Asche versank, auf die eigenen sauberen Hände verweisen konnte, über Nacht der große Hoffnungsträger geworden.

Wie die „Alleanza Nazionale“ in Italien trat auch die AKP zu Beginn ihrer Regierungszeit vollständig aus dem Schatten ihrer Vergangenheit der politischen Randständigkeit. Man verordnete der Türkei einen radikalen Modernisierungskurs, investierte in Bildung und Infrastruktur, öffnete die Märkte, stärkte die Bürgerrechte und die Minderheiten, beschnitt die Rechte des Staates. Die paternalistischen Maßnahmen der Kemalisten gegen die streng religiösen Kreise wurden nicht mehr unter der Prämisse einer grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft bekämpft, sondern als Teil eines modernen, liberalen Reformprozesses, der die Türkei in die EU führen sollte. Der offizielle Beginn der Beitrittsverhandlungen 2005 war der größte Erfolg der Reformpolitik Erdoğans.

Diesen Reformbemühungen wurden von Beginn an Steine in den Weg gelegt. Im Abstand weniger Monate kam es immer wieder zu Terroranschlägen und innenpolitischen Krisen, die den Eindruck erweckten, die alten Eliten, die sich Stück für Stück entmachtet sahen, würden eine Strategie der Spannung fahren, um eines Tages eine Begründung für einen Militärputsch zu schaffen. Eine Reihe von Demonstrationen im Jahre 2006 nach einem Mordanschlag im Verfassungsgericht und ein Ultimatum des Generalstabes 2007 im Vorfeld der Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten brachten die Regierung Erdoğan an den Rand eines Sturzes.

2007: Der Machtkampf ist entschieden

Ein überwältigender Wahlsieg und die Entdeckung des Ergenekon-Netzwerkes 2007 sollten den Machtkampf endgültig zu Gunsten Erdoğans entscheiden.

Je gefestigter seine Machtposition wurde, umso mehr versuchte Erdoğan, selbst dem Land und der Gesellschaft eine Richtung zu geben. Seine Rede 2008 in Köln, wo er Assimilation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete, wurde auch als Herausforderung an die europäischen Länder mit hohem türkischen Einwandereranteil im „Kampf um die Köpfe“ gesehen: Erdoğan will die im Ausland ausgebildeten High Potentials perspektivisch wieder in die Türkei zurückholen.

Andererseits ließ er auch wieder stärker Elemente der alten Milli-Görüş-Ideologie in seine Politik einfließen. Mit seinem „One Minute“-Auftritt in Davos und der von ihm genehmigten „Mavi-Marmara“-Aktion inszenierte er sich als Aushängeschild des „Antizionismus“. Der Grund dafür soll Beobachtern zufolge gewesen sein, die Türkei als Führungsmacht innerhalb der islamischen Welt zu platzieren, was ohne die Rückendeckung durch die Israel feindlich gesonnenen arabischen Staaten nicht möglich wäre.

Das „Ja“ im Verfassungsreferendum 2010 war ein weiterer großer Triumph Erdoğans. Allerdings lief von diesem Moment an nicht mehr alles nach Wunsch. Das Vorhaben, auf der Basis des Erfolges von 2010 eine zivile Verfassung zu schaffen, scheiterte, da die Opposition das von der AKP favorisierte Präsidialsystem nicht akzeptieren wollte.

In der dritten Amtszeit erwacht der alte Kämpfer wieder

Der Arabische Frühling, der zu Beginn noch eine Stärkung der Türkei als Vorbild eines islamisch geprägten Reformstaates versprochen hatte, geriet zum Fiasko: In Syrien kam es nicht, wie von Erdoğan angenommen, zu einem Sturz Assads. In Ägypten wurde durch einen blutigen Putsch das Ancien Regime wiedererrichtet.

Seit dem Wahlsieg 2011 versuchte die AKP auch immer stärker, einen politischen Primat innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen. Der alte Kämpfer war immer noch da – und er trat wieder stärker in Erscheinung als Erdoğan, der Reformer. 2013 war für Erdoğan und seine Regierung ein Krisenjahr: Erst die Gezi-Proteste, dann der Korruptionsskandal. Gerade der Vorwurf der Korruption ist für die AKP und ihren langjährigen Parteichef besonders schwerwiegend, waren es doch einst gerade die sauber gebliebenen Hände gewesen, die 2002 den Triumph über die alten Eliten ermöglicht hatten.

Wahrscheinlich erklärt auch dies die besonders kompromisslose Gangart Erdoğans gegenüber allen, die er als Wegbereiter der Ermittlungen betrachtet.

Auf Grund des Parteistatuts kann Recep Tayyip Erdoğan kein weiteres Mal als Premierminister kandidieren. Seine politische Zukunft kann bis auf weiteres nur in der Präsidentschaft bestehen – allerdings mit jenen eingeschränkten Befugnissen, die dem Präsidenten nach der alten Verfassung zukommen.