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Politik

Erdoğans neuer Verbündeter ist der kemalistische „tiefe“ Staat

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Erdoğan bekämpfte das Militär, den Wächter des laizistischen Regimes, mit allen Mitteln. Jetzt, wo er sich fast am Zenit seines Wirkens wähnt, kooperiert er mit ihnen. Diese bräuchten noch Zeit, um ihre alte Stärke wiederzuerlangen, meint unser Geprächspartner.

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Auf dem Weg an die Macht war der „tiefe“ Staat dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ein Dorn im Auge. Angekommen an der Spitze der Macht verbündete er sich mit ihm und bekämpft die freie Presse und die Zivilgesellschaft unter dem Kampfbegriff „Parallelstruktur“. Dem erfahrenen Journalisten Doğan Ertuğrul zufolge stützt Erdoğan seine Macht unter anderem auf die Kräfte der alten Türkei. Dazu zählen auch Strukturen des „tiefen“ Staates.

Die AKP hat sich in der Zeit von 2011 bis 2015 von einer Partei, die sich für demokratische Reformen einsetzt und eine neue zivile Verfassung einführen will, zu einer autoritären, staatstragenden Partei entwickelt. Was hat zu dieser Veränderung geführt?

Die AKP ist nicht zu einer staatstragenden Partei geworden, sondern zu einer Partei von Erdoğan…

…und Erdoğan betrachtet sich als identisch mit dem Staat.

Er betrachtet sich nicht nur als identisch mit dem Staat, sondern auch mit der ganzen Türkei. Jeden, der gegen ihn ist, erklärt er automatisch zum Feind der Türkei. Damit nicht genug, bezichtigt er seine Gegner des Landesverrats. Und wenn das alles nicht hilft, hetzt er seine Medien und Rechtsanwälte auf sie. Seit seinem Amtsantritt im Sommer 2014 gab es fast 2000 Klagen gegen Bürger, die Erdoğan beleidigt haben sollen. Das ist eine antidemokratische, ausgrenzende und polarisierende Politik und leider glaubt Erdoğan, das er genau mit diesem Politikstil erfolgreich geworden ist. Ich hingegen bin der Meinung, dass das System Erdoğan und der Staat nicht ein und dasselbe sind. Er hat den Staat nicht ganz vereinnahmt.

Es handelt sich also um zwei Akteure mit verschiedenen Agenden: Der Staat und Erdoğan?

Richtig. Höchstwahrscheinlich gibt es eine Zusammenarbeit zwischen ihnen. Als der alte kemalistische Staatsapparat gesehen hat, dass er mit den alten Methoden nicht mit Erdoğan fertig wird, hat er seine Strategie geändert und spielt auf Zeit.

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Seit Erdoğan Hakan Fidan, den er als seinen engsten Vertrauten bezeichnet, an die Spitze des Geheimdienstes MİT gesetzt hat, verhält sich der Geheimdienst wie ein verlängerter Arm der AKP. Aber jeder weiß, dass der MİT eine dunkle Behörde ist, die ihre Finger überall im Spiel hat – auch in vielen dubiosen Machenschaften. Er ist mitverantwortlich für die vielen unaufgeklärten Morde, die es heute immer noch gibt. Wie kann diese Einrichtung nur dadurch, dass die Spitze von einem Erdoğan-Vertrauten besetzt wird, zu einem Erdoğan-Amt mutieren?

Kann sie das?

Es ist ein Schein, der trügt. Die Kulisse täuscht. Zur Zeit scheint es so zu sein, dass ein Staatspräsident an der Spitze des Staates steht, der alle Einrichtungen kontrolliert und diese Kontrolle weiter zu einer totalen Kontrolle hin ausbauen will. Aber der Staatsapparat, der in der Entstehungszeit der Republik etabliert wurde und der immer noch existiert…

…Sie meinen die Kemalisten…

…ja. Der wird sich so leicht nicht ergeben. Falls er sich ergeben hätte, wäre Erdoğan für die von ihm selbst ausgerufene Hexenjagd gegen die Hizmet-Bewegung nicht auf die Hilfe der alten Ultra-Kemalisten angewiesen. Bis noch vor einigen Jahren hat Erdoğan Doğu Perinçek dämonisiert. Heute sieht man ihn auf fast jedem Bildschirm regierungsnaher Sender.

Warum ist Erdoğan auf diese Koalition angewiesen?

Weil er immer noch keine Kader hat, mit denen er den Staat führen kann. Um sich an der Macht halten zu können, ist Erdoğan auf die Unterstützung der kemalistischen Infrastruktur im Staat angewiesen. Sie, nicht Erdoğan, bilden immer noch den Kern des Staates.

Warum brauchen die Kemalisen Erdoğan?

Sie sind geschwächt. Die Ergenekon und Balyoz-Prozesse haben gezeigt, wie tief sie in illegale Machenschaften verstrickt sind. Sie brauchen Zeit, damit sie wieder zur alten Stärke finden. Zudem brauchen sie Erdoğan für den Kampf gegen die Hizmet-Bewegung. Die Kemalisten haben in der Vergangenheit des Öfteren versucht, die Bewegung um den muslimischen Prediger Gülen zu schwächen, gar zu vernichten. So erfolgreich, wie Erdoğan ist, hätten sie niemals werden können.

Wir haben eine Partei an der Macht, die bei den letzen Wahlen fast 50 Prozent der Stimmen bekommen hat und seit nunmehr 14 Jahren das Land regiert, einen charismatischen Führer, der die Massen an sich bindet wie kein anderer Politiker in der nahen Vergangenheit und Sie sprechen immer noch von einem Staat, der, wenn nötig, eigenständig, gegen diese Regierung handeln könnte. Und es handelt sich um einen Staat, der eine antidemokratische politische Kultur produziert. Wie ist das möglich?

Das ist das ewige Grundproblem der Türkei. Es ist einer gewählten Regierung nie gelungen, auch über den Staat zu bestimmen. Es gab immer einen „tiefen Staat“, der immer noch existiert. Dieser „tiefe“ Staat hat jeder gewählten Regierung die Grenzen aufgezeigt. In den politischen Biografien gibt es eine Anekdote, die aus der Gründerzeit stammt und in der Atatürk zitiert wird. Er soll zu Fethi Okyar, den er zum Ministerpräsidenten ernannt hatte, gesagt haben: „Misch Dich nicht in die Außenpolitik ein, die Ernennung der Gouverneure geht Dich nichts an, die Militärangelegenheiten sollten dich nicht beschäftigen, genauso wie die Finanzen. Mit den restlichen Bereichen kannst Du machen, was du willst.“ Wenn wir vom „tiefen Staat“ sprechen, verstehen heute die meisten die Militärführung darunter. Die politische Ordnung der Türkei ist ein laizistisches und republikanisches Regime, dessen Wächter die Militärs sind. Diese Kraft ist durch die Balyoz- und Ergenekon-Prozesse geschwächt und kann ihr Damoklesschwert über die Demokratie nicht mehr so schwingen wie sie es die Jahrzehnte davor gemacht hat. Sie braucht Zeit, um ihre alte Kraft wiederzuerlangen.

Ist der Einfluss auf die kemalistische Ideologie nur auf die Militärs beschränkt?

Nein. Seit der Gründung der Republik gibt es Kräfte in der Bürokratie, in den akademischen Kreisen, in der Arbeitswelt und unter den Intellektuellen, die den Einfluss der Militärs auf die Politik verteidigen. Diese Strukturen verfügen auch über Instrumente, um die Öffentlichkeit zu beeinflussen und zu manipulieren. Sie haben sich nicht in Luft aufgelöst. Lediglich an Operationskraft haben sie eingebüßt.


Der Journalist Doğan Ertuğrul beobachtet und beschreibt seit nunmehr 25 Jahren die türkische Innenpolitik. Bevor er vor knapp zwei Jahren angefangen hat, für die ehemals oppositionelle Tageszeitung Zaman (sie steht mittlerweile unter staatlicher Zwangsverwaltung) zu schreiben, war er jahrelang Redaktionsleiter bei der regierungsnahen Tageszeitung Star.