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Kolumnen

Erdoğan nutzt deutsche Schwächen geschickt aus

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KOLUMNE Deutschland, ich habe diese Auffassung schon wiederholt vertreten, hat viele Stärken, aber wie alle anderen Staaten auch, die eine oder andere Schwäche. Eine davon ist fehlendes Selbstbewusstsein, Schwanken zwischen Drohgebärde und Zurückweichen im Ernstfall. Wenn mich der Eindruck nicht täuscht, hat der türkische Präsident Recep Tayyib Erdoğan diese Spannweite an Verhaltensmöglichkeiten ziemlich genau erkannt.

Auf der Suche nach Gründen komme ich zu dem Schluss, dass sie tief in der deutschen Geschichte liegen. Jahrhundertelang bestand Deutschland aus einer nahezu unüberschaubaren Anzahl von Kleinstaaten, während das Osmanische Reich von Bosnien bis nach Ägypten reichte. Die deutsche Schwäche nutzten andere Mächte aus, das Land war oft genug Schauplatz von Kriegen, die die großen europäischen Mächte gegeneinander führten, am schlimmsten im Dreißgjährigen Krieg. Noch wichtiger ist in meinen Augen der Umstand, dass sich Deutschland von einer ganz kurzen Phase abgesehen am großen Wettlauf der Europäer um Kolonien nicht beteiligte. Nur im Zeitraum von 30 Jahren war das deutsche Kaiserreich zwischen 1884 und 1914 am Erwerb von Kolonien beteiligt. Die Spuren dieser Zeit lassen sich noch heute in Ost- und Westafrika besichtigen. Denn die Deutschen waren gründlich, sie bauten Rathäuser, Postämter und Eisenbahnen.

Deutschland ohne, seine Nachbarn mit Kolonialerfahrung 

Die meisten Nachbarn der Deutschen sind ältere Kolonialmächte, vor allem die Portugiesen und Spanier, die Holländer und Belgier, die Franzosen und vor allem die Briten. Sie bauten als führende Seemacht sehr früh ihr Imperium in Indien auf und sicherten sich mit einer Kette von Stützpunkten rund um Afrika und durchs Mittelmeer den Weg dorthin. Bis heute wird dort Englisch gesprochen, in Gibraltar, auf Malta, auf Zypern, in Südafrika. Zwei Gesichtspunkte kommen hinzu: den Briten wie den anderen Europäern mit Kolonialerfahrung ist der Umgang mit anderen Völkern, Menschen anderer Hautfarbe eine vertraute Angelegenheit, und – nicht zu unterschätzen – sie waren Chefs wie die Türken in der arabischen Welt. Das hat Sicherheit geschaffen, das hat die Völker geprägt, auch wenn im Einzelfall das die meisten heute nicht mehr wissen. Und noch etwas kommt hinzu: die ehemaligen großen europäischen Kolonialmächte unterhalten bis zum heutigen Tage enge Kontakte zu den Ländern, die sie beherrscht haben. Die jungen Briten bereisen nicht Europa, sondern fahren nach Zypern und nach Indien. Vieles von der englischen Alltagskultur ist dort übernommen worden, die Zyprioten spielen Fußball, selbst Gibraltar hat eine Fußball-Nationalmannschaft und Inder und Pakistanis spielen Cricket und Hockey. Man trinkt englischen Tee und genießt After-Eight-Schokoladen-Minz-Kekse – abgesehen davon, wie man Kolonialismus beurteilt.

Die Bundesrepublik verfügte bis vor einer Generation nicht über derartige Erfahrungen. Ich erinnere mich noch daran, wie ich als Kind erstmals einen Farbigen auf der anderen Straßenseite sah. Bis dahin hatte ich solche Menschen nur aus Bilderbüchern und Margarinealben mit Sammelbildern gekannt. Erst in den 1970er Jahren, zeitlich mit der Ankunft der Gastarbeiter zusammenfallend, geriet der Rest der Welt allmählich ins Blickfeld der Deutschen. Sie tun sich damit, offen gestanden, bis heute schwer, vor allem die Ostdeutschen, die bis 1989 von der Welt abgeschottet waren. Mit den Arbeiter- und Studentenkontingenten aus Vietnam, Angola und Kuba hatten sie kaum Kontakt.

Man muss also mit Deutschland noch etwas Geduld haben. Aber es ist höchste Zeit, dass sich die Realität der veränderten Zusammensetzung der Gesellschaft in der Sprache abbildet, dass man nicht länger zwischen Deutschen und Deutschtürken unterscheidet, die Herkunft im Munde führt.

Nicht nur verfassungsrechtliche Bedenken

Auf einem anderen Blatt steht hingegen, wie gut beraten Erdoğan ist – abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken – auf dem Boden der Bundesrepublik Wahlkampf zu führen. Die Deutschen haben das auch gemacht – an das Deutschsein der Amerika-Auswanderer appelliert, die längst Bürger des Aufnahmelandes geworden waren – mit schlechtesten Erfahrungen. Nach dem 1. Weltkrieg wurden viele amerikanische Orte, die deutsche Namen trugen, umbenannt. Im 2. Weltkrieg verfrachtete man deutschstämmige Bürger in Internierungslager. Durch Wahlkampfauftritte werden Prozesse aufgehalten, die sich auf gutem Wege befinden. So kehrt bei Menschen, die sich orientieren müssen, die sich in Deutschland finden wollen, keine Ruhe ein.