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Politik

Erdoğan setzt auf den „Wut“-Faktor

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Zorn, Wut und Aggression befeuerten die Proteste der Demonstranten in Taksim und waren ihr Antrieb. Nicht gerade die idealen Grundlagen für durchdachte Urteile. Im Falle des Premierministers wird Wutbürgertum aber zur Strategie. (Foto: Metin Pala)

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Erdoğan setzt auf den „Wut“-Faktor
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Als ich am Sonntagabend in Taksim die Menschenmasse vor dem Fernsehsender Habertürk TV sah, fühlte ich mich in die 70er-Jahre zurückversetzt. In unserer Jugend hatten wir Aktionen dieser Art oft durchgemacht, daher kenne ich den Zustand der Psyche innerhalb dieser Massen. Mit ein wenig Mut und Souveränität hätte eine Person diese Massen beliebig steuern können.

Neben den Slogans “Nieder mit der Regierung” und “Mörder-Regierung” waren auch die Steine beunruhigend, die die Fenster von Habertürk trafen. Am Eingang stand ein großer Mann mit einem Motorradhelm, der mit dem Sicherheitschef verhandelte.

Vor der Tür standen die unbewaffneten, aber gewaltbereiten Demonstranten, zeigten auf den Sicherheitsmann und verlangten einen Rückzug des Sicherheitspersonals. Es war eine amateurhafte und kindliche Forderung.

Bei Massenprotesten ist Aggression die eigentliche Motivation und die Quelle, aus der die Beteiligten Kraft schöpfen. Sie haben auf einmal Menschen um sich herum, die ihre Wut teilen und es entsteht eine Menschenmasse, die zu einer Einheit wird. Wenn die Beteiligten ihre Identität in einer Masse verschmelzen lassen, dann werden sie genauso stark und zerstörerisch wie diese Masse. Das ist der Weg von einsamen, verzweifelten Menschen, um ihre Anliegen durchsetzen zu können.

Die Masse und ihre Eigendynamik

Sie finden nun die Gelegenheit, Menschen, die Sie ignorieren, die Sie verärgern, die ihre Wünsche außer Acht lassen oder von denen sie das alles zumindest annehmen, mal so richtig eins auszuwischen oder sie sogar zu vernichten. Die Aggression in der Masse schafft Entspannung, hat eine enorme Therapiefunktion und erzeugt das Gefühl der Selbstverwirklichung.

Der einzige Preis, den Sie zahlen müssen, ist, das eigenständige Denken einzubremsen und sich in den Schoß der wütenden Masse fallen zu lassen – aber auch, sich von dieser Masse führen zu lassen. Wut kann Massen steuern, doch es ist nicht absehbar, wohin sie steuern.

Die Wut auf den Premierminister ist jedoch von strategischer Natur. Seine politischen Widersacher versuchen, sie zu steuern. Aber auch er selbst will sich die Mechanismen der Masse zunutze machen und mit gleicher Münze zurückzahlen. Der Regierungschef benutzt die Wut dabei nicht nur als rhetorisches, sondern auch gleichzeitig als politisches Mittel.

Es ist ein gefährliches Spiel, wütende Massen durch Wut stoppen zu wollen. Doch diese Wut ist nicht so natürlich, provokativ und impulsiv wie die der Massen, sondern sie ist kontrolliert, ausgeglichen und berechnend. Bei der Wut der Massen kommt es auf die Gründe an, bei der Wut des Premierministers ist das Ergebnis wichtig.

Harmlose menschliche Forderungen wurden mit maßloser Gewalt beantwortet und dadurch hat die Wut große Ausmaße erreicht. Das Fass ist voll, es quillt über und ist sogar umgekippt. Die Opposition hat ihre Ohnmacht gegenüber einer elf Jahre lang regierenden Partei im Zuge dieser Entwicklung durchbrochen. Sie hatte viel Nachholbedarf und parteipolitisch nicht viel entgegenzusetzen, nun hat sich die Opposition Gehör verschafft.

Extremisten werden Proteste auf Dauer diskreditieren

Anschließend haben Professionelle, d.h. extreme Gruppen, mitgemischt und versucht, von dieser Wut zu profitieren. Das Ende ist klar: Je höher die Wellen der Gewalt schlagen, desto geringer wird die Unterstützung seitens des Volkes sein. Das Feld wird mehr und mehr den Marginalen überlassen und das Feuer des Aufstandes wird dadurch erlöschen.

Wie sieht es nun aber mit der Kontrolle seitens der „mächtigen” Regierung über die politisch instrumentalisierte Wut aus? Wie verhält es sich mit der Lösungsstrategie des Regierungschefs, kontrolliert Öl ins Feuer zu gießen?
Um das Ergebnis der Proteste im Gezi-Park, die sich auf die ganze Türkei ausgeweitet haben, vorherzusehen, ist eine Analyse notwendig.

Hat der Ministerpräsident einen Schritt zurückgemacht? Ja, hat er. Achten Sie nicht auf die Worte, sondern auf die Taten. Dass sich die Polizei in Taksim zurückgezogen hat, war ein Schritt. Die Begleitworte dazu waren jedoch ein Zeichen der Wut seitens der Regierung. Die Leute, die Sprüche klopfen wie „der Ministerpräsident hat es nicht verstanden”, sollten vielleicht auch mal über den eigenen Tellerrand blicken und sich ein politisches Verständnis aneignen.

Der Ministerpräsident zeigt eigentlich keine impulsiven Reaktionen, sondern fein abgestimmte Botschaften, die er uns in einem Paket vorlegt. „Ich werde mich nicht beugen, keinen Schritt zurück machen”, sagt er und verweist damit auf die Argumentation der Demonstranten.

Sind die Wiedererrichtung der Topçu Kışlasi und der Gezi-Park für die AKP sehr wichtig? Mit Sicherheit nicht, doch hier geht es um die Umsetzung der geplanten Projekte eines Premierministers, der sich nicht umstimmen lassen möchte, weil es als Zeichen der Schwäche gedeutet werden könnte. Und genau das fördert die Krise.

Polarisierung garantierte bislang den Erfolg

Mit den Bezeichnungen wie “Herumtreiber” und “Alkoholiker” polarisiert er zwischen seinen eigenen Anhängern und den Demonstranten. Warum? Um seine eigene Unterstützung durch Massen zu gewährleisten oder in Aktion treten zu lassen. Zwischen den Botschaften fügt er noch Veranlassungen für die ganze Welt hinzu, wie z.B. die Räumung der Läden, die den Zugang zu den Kirchen erschweren.

Dieses Kalkül muss richtig erkannt werden. Der Ministerpräsident hat das Volk polarisiert. Schon im Zusammenhang mit dem Beispiel Suadiye hat er mit den Worten “Jahrelang gab es Unterdrückte wie uns” die Menschen in „Wir“ und „Ihr“ eingeteilt und so eine Dichotomie geschaffen.

Er stellt die schweigende Mehrheit den Aufständischen gegenüber und sorgt damit für ein Gegengewicht. „Ist er denn nicht der Ministerpräsident von allen und nicht nur von denen, die ihn gewählt haben?” könnte man sich fragen und dies auch zu Recht.

Der Ministerpräsident hat die Faktoren Wut, Dickköpfigkeit und Polarisierung als gezielte politische Technik benutzt. War das richtig? Nein. Hatte es Erfolg? Ja.