Politik
Erdoğans neue Verbündete und Birands Prophezeiung
Uşak ist eine Stadt im westlichen Zentralanatolien und die Heimat des Journalisten Ali Ünal. Gegen den ehemaligen Zaman-Kolumnisten und vier weitere Personen ist nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli Haftbefehl erlassen worden. Anfang der Woche wurden nun alle fünf verhaftet und in Handschellen abgeführt. Bei den Mitverhafteten handelt es sich unter anderen um einen Ingenieur und einen Rechtsanwalt. Seit nunmehr über drei Jahren ist es eine normale und alltägliche Meldung in türkischen Medien, dass Lehrer, Richter, Geschäftsleute, Wissenschaftler, Ärzte, Journalisten, Polizisten und Studenten verhaftet werden. In Istanbul zum Beispiel hat es die Akfa Holding getroffen, einen Konzern mit insgesamt 51 Tochterunternehmen und zehntausenden Mitarbeitern, darunter A101, eine der größten Einzelhandelsketten der Türkei, die nach dem Model Aldi arbeitet. Sie hat in der Türkei über 10 000 Filialen. Holding-Chef Fatih Aktaş und seine Frau Yeliz wurden gemeinsam mit dutzenden Mitarbeitern verhaftet. Betroffen von der Verhaftungswelle sind weitere 43 Unternehmen in Istanbul. Der Vorwurf gegen alle Verdächtigen lautet gleich: Unterstützung der sogenannten „FETÖ“, der „Fethullahistischen Terrororganisation“. Unter dieser Chiffre führt die AKP-Regierung eine Säuberungswelle und Hexenjagd gegen die zivile sunnitische Mittelschicht des Landes, die in den vergangenen drei Jahrzehnten den sozialen Aufstieg geschafft hat. Es war Turgut Özals liberale Reformpolitik, die ihr den Weg nach oben geebnet hat.
Özal war der erste Ministerpräsident nach dem Militärputsch von 1980 und wurde 1989 der erste zivile Staatspräsident in der Geschichte der Türkei, bevor er im Jahre 1993 unter zweifelhaften Umständen starb. Er war ein bekennender Muslim, der mit dem Spruch „In der einen Hand der Koran, in der anderen ein Computer“ berühmt wurde und die türkische Wirtschaft umgekrempelt hat. Anstelle des staatlichen Wirtschaftsmonopolismus machte er die freie Marktwirtschaft zur Grundlage seiner Wirtschaftspolitik, mit all ihren neoliberalen Negativauswirkungen. Folge dieser Politik war unter anderem, dass nun nicht mehr nur der türkische Staat und das Istanbuler Großkapital, die international gut vernetzt und ideologisch dem Kemalismus verhaftet sind, alleinige Profiteure der türkischen Wirtschaft waren. Gewinner dieser ökonomischen Revolution waren die „Anatolischen Tiger“, die im selben Zug auch den zivilen Islam im urbanen Umfeld stärkten. Bei ihnen handelte es sich um leistungsorientierte Anatolier wie Fatih Aktaş, die weder ihre Religion gegen die Moderne eintauschen wollten, wie es die Kemalisten taten, noch umgekehrt die Moderne gegen ihre Religion, wie die Islamisten um Necmettin Erbakan.
Diese neue sunnitische Zivilität fand in der ursprünglich unpolitischen und muslimischen Gülen-Bewegung ihre ideelle Heimat. Zudem konnte sich diese neue Mittelschicht über das Hizmet-Netzwerk sowohl in der Türkei als auch international organisieren. Es entstanden Verbände, Hilfsorganisationen, Stiftungen, Universtäten, Schulen und Unternehmen auf verschiedensten Gebieten, die unabhängig vom Staat existieren konnten und eine muslimische Elite hervorgebracht haben, die gesellschaftspolitische Missstände aufzeigen und Forderungen an Staat und Politik formulieren konnte. Diese neue, selbstbewusste sunnitische Mittelschicht unterstützte die Schulen der Bewegung auch deshalb, weil in ihnen der nötige qualifizierte Nachwuchs für die eigenen zunehmend erfolgreichen Unternehmen ausgebildet wurde.
Diese Entwicklung war den kemalistischen und ultranationalistischen Eliten, die ihre Machtbasis im Militär sahen, ein Dorn im Auge. Sie selbst hätten zwar die Macht, nicht aber die demokratische Legitimation, diese muslimische Zivilgesellschaft zu zerschlagen. Teil dieser neuen sunnitisch-konservativen Mittelschicht war aus Sicht der Kemalisten auch die AKP. Umgekehrt hat ihr Aufstieg vielen Mitgliedern dieser Schicht politische Teilhabe ermöglicht.
Koalitionen, die später zu Hindernissen werden
Auf seinem steinigen Weg an die Spitze des kemalistischen Staates hat der machtbewusste Recep Tayyip Erdoğan bei Bedarf immer wieder neue Koalitionen geschmiedet und alte Verbündete mit einer Leichtigkeit zu Staatsverrätern erklärt, mit der andere die Kleidung je nach Wetterlage wechseln. Nachdem er mit Unterstützung der Hizmet-Bewegung wichtige demokratische Reformen umgesetzt, die Beitrittsverhandlungen mit der EU eingeleitet und über die juristisch nicht einwandfreien Ergenekon-Prozesse die Vormacht der Militärs gebrochen hatte, waren ihm seine alten Verbündeten, zu denen neben der Hizmet-Bewegung auch liberale Intellektuelle wie Ahmet Altan oder Şahin Alpay zählten, ein Hindernis.
Denn die Demokratie hatte für ihn ihren Zweck erfüllt. Der Zug war am Ziel angekommen, er konnte aussteigen und an seinem Konzept eines islamistisch-autokratischen Präsidialsystems nach türkischem Modell basteln. Ein Modell, in dem Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Eigentumsrechte, Opposition und freie Medien entweder keinen Platz haben oder nach Erdoğans Vorstellung, der sich über Recht und Verfassung sieht, neu interpretiert werden. Das ist das Konzept der „Neuen Türkei“, das sein brutales Gesicht erstmals während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 gezeigt hat. Seitdem nutzt Erdoğan jede tatsächliche oder vermeintliche Krise, um seine Vorstellung von seiner neuen Türkei umzusetzen. Und in dieser hat die lebhafte, pluralistische und mündige Zivilgesellschaft, die auch als Folge der Reformen in den ersten Regierungsjahren der AKP entstanden ist, keinen Platz.
Was tun aber mit einer sunnitischen Bewegung, mit der man gemeinsam groß geworden ist und die dieselbe gesellschaftliche Basis anspricht? Denn in der Türkei war ein klassisches Hizmet-Mitglied auch ein klassischer AKP-Wähler. Erdoğan stellte die Hizmet-Bewegung vor die Wahl, entweder für oder gegen ihn zu sein. Was das heißt, beobachten wir seit den Korruptionsermittlungen vom Dezember 2013. Erdoğan führt eine Hexenjagd gegen Fethullah Gülen und die Hizmet-Bewegung, er säubert Staat und Gesellschaft konsequent von ihr.
Ein zivilgesellschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg
Die Hizmet-Bewegung hat in der Türkei vieles falsch gemacht. Sie war ein zivilgesellschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg. Die Bewegung hat ihre gesellschaftliche Größe und ihre mediale Macht überschätzt und sich in einen politischen Kampf begeben, bei dem von Beginn an feststand, dass sie ihn verlieren würde. Seit nunmehr knapp drei Jahren steht sie da wie eine Maus, die von einer Katze gejagt wird. Die Bewegung hat in ihrem Entstehungsland alles verloren; ihre Einrichtungen, ihre soziale Basis und auch die Legitimation, ein Teil der türkischen Gesellschaft zu sein. Gülen-Bücher sind verboten, auf öffentlichen Plätzen werden Puppen, die ihn darstellen sollen, verbrannt. Jeder, der in den vergangenen 40 Jahre etwas mit der Hizmet-Bewegung zu tun hatte – und das sind nicht wenige – wird als Putschist und Terrorist verfolgt, diskriminiert, aus dem Staatsdienst entlassen, inhaftiert und gefoltert. Mittlerweile ist die Rede davon, dass mehrere Tausend Angehörige der Bewegung einfach verschwunden sind. Keiner weiß, wo sie sind. Es erklärt sich kaum ein Rechtsanwalt bereit, die Verteidigung von jemandem, der wegen sogenannter „FETÖ-Mitgliedschaft“ inhaftiert ist, zu übernehmen. Wie im Falle von Bülent Korucu, dem ehemaligen Chefredakteur von Aksiyon, dem einst auflagenstärksten Wochenmagazin der Türkei, werden Familienangehörige in Sippenhaft genommen, weil die Polizei den Verdächtigen nicht auffinden kann. Die Zeitschrift Aksiyon ist mittlerweile verboten worden. Die Unterstützung der AKP war für die Bewegung in der Türkei nicht nur in dem Sinne fatal, dass sie sich stark politisierte und dadurch ihren zivilgesellschaftlichen Charakter in großen Teilen einbüßte. Sie existiert praktisch nicht mehr. Sie hat den höchst möglichen Preis bezahlt.
Erdoğan füllt die durch die Säuberungen enstandenen Leerstellen in Schlüsselpositionen, die in Verwaltung und Militär entstanden sind, mit den Kemalisten und Ultranationalisten (Ulusalcılar), die er noch vor fünf Jahren bekämpft hat. So ist es nicht verwunderlich, dass säkulare und nationalistische Tageszeitungen wie Hürriyet und Sözcü noch mehr fordern als es die AKP-Regierung bereits tut. Sie solle auch die „FETÖ-Terroristen“ in den eigenen Reihen erkenntlich machen und ihren „politischen Arm“ zerschlagen, verlangen sie. Gegen vier ehemalige Minister, zu denen auch der Mitbegründer der AKP und ehemalige Parlamentspräsident Bülent Arınç zählt, hat die Staatsanwaltschaft bereits Anklage wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ erhoben. Mehrere ehemalige AKP-Abgeordnete und Bürgermeister sitzen wegen desselben Vorwurfs bereits im Gefängnis.
Aus FSTÖ mach FETÖ
Die Säuberungswelle erreicht langsam aber sicher die AKP selbst. Ein Plan, der 2009 durch die türkischen Medien ging, könnte nun in diesem Zuge Wirklichkeit werden. Es handelt sich dabei um ein geheimes Vorhaben der Militärs, das die Unterschrift des damaligen Oberst Dursun Çiçek trägt, und demzufolge das kemalistische Militär sowohl die AKP als auch die Hizmet-Bewegung zerschlagen wollte. In dem Plan wird die Hizmet-Bewegung im Gegensatz zu heute nicht als FETÖ bezeichnet, sondern als FSTÖ („Fethullahçı Silahlı Terör Örgütü“, „Bewaffnete Fetullahistische Terrororganisation“). Divide et impera: Seine Feinde kann man am besten bekämpfen, indem man sie dadurch schwächt, dass man sie spaltet.
Öffentlich gemacht wurde er im Juni 2009 vom investigativen Journalisten Mehmet Baransu. Die Tageszeitung Taraf, für die er schrieb, deckte unter der Leitung des renommierten Journalisten und Trägers des Leipziger Medienpreises 2009 Ahmet Altan viele illegalen Machenschaften der Militärs auf. Ihre Enthüllungen führten unter anderem zu den Ergenekon-Prozessen, bei denen Dursun Çiçek zusammen mit dutzenden anderen Militärs verhaftet wurde. Die Ergenekon-Angeklagten sind seit letztem Jahr wieder frei und wurden von der AKP-Regierung rehabilitiert. Çiçek sitzt mittlerweile als Abgeordneter der kemalistischen CHP im Parlament. Über seine riskante Arbeit sagte Ahmet Altan, der heute zu den schärfsten Kritikern der AKP zählt: „Man muss verrückt sein, um so etwas zu machen“. Die Taraf wurde nach dem gescheiterten Militärputsch verboten und Mehmet Baransu, dem die AKP unter anderem ihr politisches Überleben verdankt, sitzt wegen des Vorwurfs, Beweise manipuliert zu haben, seit dem 9. März 2015 im Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul.
Bereits 2010 hatte der bekannte Journalist Mehmet Ali Birand, der im Januar 2013 verstarb, erklärt, dass es Pläne gebe, die Hizmet-Bewegung zu zerschlagen. „Die Bewegung wird durch einige Kreise bewusst mächtiger und einflussreicher dargestellt als sie es tatsächlich ist. Eines Tages wird die Regierung all ihre eigenen Fehler der Bewegung anhängen, um sich selbst reinzuwaschen.“ Man könne eine Hexenjagd nicht ausschließen, so Birand. Der Präsident bezeichnet das Vorgehen gegen Gülen und seine Bewegung heute selbst als Hexenjagd.
Kommt als nächstes die HDP dran?
Wenn man den gescheiterten Putsch und die danach verhängten harten Maßnahmen zusammennimmt, dann hat es in der Türkei einen zivilen Putsch gegeben. Das Militär ist geschwächt, die Hizmet-Bewegung zerschlagen und als nächstes scheinen die Kurden dran zu sein. Gegen HDP-Chef Selahattin Demirtaş und viele Abgeordnete seiner Partei ist bereits Anklage wegen Terror-Unterstützung eingeleitet worden. Die pro-kurdische Tageszeitung Özgür Gündem ist verboten worden und ihre Redakteure verhaftet. In Diyarbakır wurde ein allgemeines Versammlungsverbot verhängt.
Kurden und der zivile Islam: Das sind die zwei Feinde, die nach Auffassung der orthodoxen Kemalisten seit Jahrzehnten gemeinsam „mit äußeren Mächten“ gegen die Türkei zusammenarbeiten. Diese Deutung hat Erdoğan nun übernommen und macht eine kemalistische Politik in religiösem Gewand.
Es ist sehr schwer, eine Prognose zur Entwicklung der Türkei in der nahen Zukunft zu wagen. Ein türkischer Politikwissenschaftler, mit dem ich kürzlich über die Lage gesprochen habe, sagte mir, dass wir aus der Türkei in den kommenden Wochen und Monaten nur noch schlechte Nachrichten erhalten werden. Dazu könnte auch zählen, dass zunehmend mehr aktive und ehemalige Politiker der AKP wegen des Vorwurfs verhaftetet werden, die FETÖ unterstützt zu haben. Dann hätten die Ultranationalisten, die die Türkei nicht als einen Teil der westlichen Wertegemeinschaft sehen, mit einer Verspätung von knapp 10 Jahren doch noch ihr Ziel erreicht. Die spannende Frage ist, ob Erdoğan sich irgendwann herausreden muss, indem er sagt, die AKP habe ihn betrogen, wie es einst angeblich die Hizmet-Bewegung, die Kurden und die Aktitivisten von Mavi Marmara getan haben.