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Politik

Ergenekon: Brutal, kaltblütig und hinterhältig

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Der eine oder andere Zeuge, der sich im Zuge der Ermittlungen gefunden hatte, mag eine zweifelhafte Persönlichkeit gewesen sein. Die harten Fakten sprechen aber eine klare Sprache: Das Ergenekon-Netzwerk war mächtig und höchst gefährlich. (Foto: ap)

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Ergenekon: Brutal, kaltblütig und hinterhältig
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Teil 3 AKP-Verbotsverfahren und Verhaftungswelle

14. März 2008: Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalçınkaya beantragt ein Verbotsverfahren gegen die AKP. Begründet wird das Verfahren damit, dass die AKP ein „Zentrum anti-laizistischer Aktivitäten“ geworden sei. Der Generalstaatsanwalt fordert für 71 Personen ein Politikverbot, unter anderem für Präsident Abdullah Gül, Ministerpräsident und AKP-Chef Erdoğan und den ehemaligen Parlamentspräsidenten Bülent Arınç. Nach dem Beginn der Ergenekon-Ermittlungen erscheint diese Maßnahme als offensichtliche Retourkutsche.

31. März 2008: Das türkische Verfassungsgericht leitet das Verbotsverfahren gegen die 71 Politiker und die Regierungspartei AKP offiziell ein. Am 30. Juli 2008 wird der Verbotsantrag jedoch abgelehnt. Sechs der elf Richter stimmen für ein Verbot, womit die notwendige Anzahl von sieben Stimmen knapp verfehlt wird. Somit darf die Partei, die im Vorfeld bereits Vorkehrungen für allfällige Eventualitäten getroffen hatte, weiter regieren, wobei jedoch gem. Art. 69 der Verfassung staatliche Unterstützungen für die AKP teilweise versagt werden.

14. Juli 2008: Die erste Anklageschrift im Rahmen des Ergenekon-Verfahrens geht bei der 13. Großen Kammer für schwere Straftaten in Istanbul ein. Sie richtet sich gegen 86 Personen, von denen sich 48 in U-Haft befinden. Unter den Aktionen mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen, werden unter anderem der Angriff auf den Staatsrat (Türkei) und die Bombardierung der Zeitung Cumhuriyet aufgelistet. Der Anklageschrift von 2455 Seiten liegen Dokumente in 441 Akten zugrunde. Neben dem Vorwurf des versuchten Umsturzes wurde den Angeklagten auch Mitgliedschaft oder Unterstützung einer bewaffneten Organisation, Besitz von Sprengstoff, Besitz von Geheimdokumenten, Aufstachelung zu militärischem Ungehorsam und öffentlicher Aufruf zu Hass und Feindschaft des Volkes zur Last gelegt.

 Das Ergenekon-Verfahren beginnt

Die Ermittlungen gegen 36 Verdächtige wurden eingestellt. Neben den im Zusammenhang mit den Waffenfunden festgenommenen Verdächtigen sind auch bereits mehrere ehemalige Militärs unter den Angeklagten. Die prominentesten davon sind Veli Küçük und Doğu Perinçek. Wenige Tage nach der Anklage belastet ein weiterer noch geheimer Zeuge Veli Küçük, dieser habe auch die anti-alevitischen Ausschreitungen 1995 in Istanbul-Gazi organisiert, bei denen 15 Menschen getötet wurden.

20. Oktober 2008: Das Ergenekon-Verfahren beginnt vor der 13. Großen Kammer für schwere Straftaten in Istanbul. Weitere Sitzungen finden am 23. und 27. Oktober statt. Am 27. Oktober 2008 wird mit der Verlesung der Anklageschrift begonnen. Die Verlesung dauert bis zum 13. November 2008. Parallel zu diesem Verfahren gehen die Ermittlungen weiter. Es kommt immer wieder zu Verhaftungswellen gegen Verdächtige.

November 2008: Der MIT antwortet auf eine Anfrage des Sonderermittlers in Form der Bekanntgabe des Zeugen Tuncay Güney. Seit 2004 in Kanada wohnhaft, wo er auch Asyl wegen angeblich drohender Verfolgung wegen seiner religiösen Orientierung und seiner Homosexualität beantragt hatte, hilft Güney den Ermittlungsbehörden bei der Erarbeitung eines Organigramms, das die Hierarchien innerhalb Ergenekons aufzudecken helfen soll. 1990 für den Geheimdienst rekrutiert, soll Güney als Doppelagent einerseits innerhalb der JITEM-Organisation Veli Küçük unterstellt gewesen sein, zeitgleich aber dem MIT über seine Beobachtungen innerhalb der Strukturen des „tiefen Staates“ berichtet haben. Bereits im Zusammenhang mit der Untersuchung des Susurluk-Vorfalles soll er erste sachdienliche Hinweise gegeben haben. Auch soll er auf der Basis einer Infiltrationstätigkeit Informationen aus der linksextremen IP („Arbeiterpartei“) und der Redaktion ihres Parteiblattes „Aydınlık“ beschafft haben, die ebenfalls eine zentrale Rolle im Ergenekon-Netzwerk gespielt haben sollen.

Güney stellt zweifellos eine schillernde Persönlichkeit dar. Der mutmaßliche Kostümjude gab an, einer jüdischen Familie aus Ägypten zu entstammen, seinen Glauben im Geheimen ausgeübt zu haben und der Rabbi „Daniel Levi“ im jüdischen Gemeindezentrum „Jakobs Haus“ zu sein. Auf Nachfrage von Journalisten stellte sich jedoch heraus, dass Güney innerhalb der jüdischen Gemeinde von Toronto völlig unbekannt war. Die Jüdische Gemeinschaft der Türkei gab zudem zu bedenken, dass es völlig ausgeschlossen wäre, dass Güney in der von ihm angegebenen Zeit eine Rabbinerausbildung abgeschlossen haben könnte. Fest steht nur, dass bereits Güneys Vater beim Geheimdienst war, seinen Sohn mit 12 Jahren durch einen Freund der Familie in ein Seminar der Süleymancılar bringen ließ und eng mit Mehmet Eymür zusammengearbeitet hatte, der die Abteilung für Terrorismusbekämpfung leitete. Eymür soll auch später auch Güneys Vorgesetzter gewesen sein.

In den späten 80er- und frühen 90er-Jahren versuchte Güney, die Gülen-Bewegung auszuspähen und zu unterwandern. Bevor er im Oktober 1994 von einer Firma gefeuert wurde, die mit Samanyolu TV zusammenarbeitete, soll er das Videoband mit der angeblichen Botschaft Fethullah Gülens an seine Anhänger, den Staat zu unterwandern, gestohlen haben, das später bearbeitet wurde, um den Gelehrten mittels eines politischen Prozesses zum Schweigen zu bringen.

Später arbeitete Güney für die Milliyet und will zum Protestantismus konvertiert sein. 1999 ergatterte er ein 10-Jahres-Visum für die USA. Auf diese Weise gelangte er nach Nordamerika, während 2001 gegen ihn ein Betrugsverfahren geführt wurde.

 Inhaftierter General: Verfahren Angriff auf die türkischen Streitkräfte

Die zweifelhafte Reputation Güneys wird von Regierungsgegnern gerne als Argument herangezogen, um die These zu untermauern, das Ergenekon-Verfahren stütze sich nur auf zweifelhafte und selbst fabrizierte Beweise. Einige Monate später sollten die Funde menschlicher Überreste in Brunnen im Kurdengebiet allerdings die Richtigkeit vieler Angaben Güneys unterstreichen.

Zahlreiche andere Zeugen der Anklage werden zum Teil noch bis zum Prozessbeginn aus Sicherheitsgründen geheim gehalten. Es sollten sich darunter allerdings zahlreiche Personen befinden, die bereits zu einem Zeitpunkt, da noch niemand von Ergenekon-Strukturen Kenntnis hatte, im Blickpunkt der Öffentlichkeit standen – sogar namhafte Terroristen der PKK oder ähnlicher militanter Kurdenorganisationen.

15. Dezember 2008: In der 26. Sitzung kommt erstmals General Veli Küçük als einer der Hauptangeklagten zu Wort. Er behauptet, die Aussage von Tuncay Güney wäre unter Druck aufgenommen worden und solle einer Inszenierung dienen. Er beschuldigt Güney unter anderem, dieser hätte ihm kurz vor seiner Pensionierung ein Auto unterschieben wollen, das dem verurteilten Mörder eines Menschenrechtsaktivisten zuzuordnen gewesen sein soll. Unter Hinweis auf 40 Jahre Dienst „für die türkische Nation″ lehnt er die Vorwürfe als „völlig unbegründet″ ab. Nicht er sei das Ziel, sondern die säkulare und unabhängige Republik. In seiner Region sei es nicht zu Morden unerkannter Täter gekommen und wenn, dann habe er sie aufgeklärt. Die Intelligenzabteilung der Gendarmerie, JITEM, habe keine außergesetzlichen Aktivitäten entfaltet. Das Verfahren sei ein Angriff auf die türkischen Streitkräfte.

7. Januar 2009: Auf Anordnung der 9. Großen Kammer für schwere Straftaten in Istanbul kommt es zur zehnten Verhaftungswelle in 12 Provinzen. Es werden 37 Personen festgenommen. Bei der Durchsuchung der Wohnung von Oberst Mustafa Dönmez im Kreis Sapanca, Adapazarı werden 22 Handgranaten, 4 Pistolen, 8300 Schuss Munition und eine Kalaschnikow gefunden. Mustafa Dönmez hält sich in Ankara auf und entzieht sich einer Festnahme, stellt sich allerdings später freiwillig.

8. März 2009: Die zweite Anklageschrift mit einem Umfang von 1909 Seiten wird der 13. Großen Kammer für schwere Straftaten in Istanbul vorgelegt. Sie betrifft 56 Personen, von denen sich 21 in U-Haft befinden. Hochrangigster Angeklagter ist der pensionierte General Şener Eruygur, der einen Putschversuch in die Wege geleitet haben soll.

Eruygur war nach seiner Pensionierung 2004 Vorsitzender des „Verbandes für das Gedankengut Atatürks“. Aus dieser Position soll er im April und Mai 2007 die „Massenkundgebungen“ gegen die Regierung Erdoğan organisiert haben. Zur selben Zeit sei bekannt geworden, dass Eruygur im Jahr seiner Pensionierung zwei erfolglose Anläufe zu einem Militärputsch unternommen habe. Der 2002 neu ernannte Generalstabschef Hilmi Özkök soll sich in diesem Zusammenhang jeweils gegen diese Vorhaben gestellt und sie so verhindert haben. Özkök war als langjähriger NATO-General vorwiegend im Ausland tätig und damit nicht in die Strukturen des Netzwerkes innerhalb des „tiefen Staates“ involviert. Mit der Ernennung Özköks hatte die Regierung Erdoğan offenbar gezielt möglichen Störmanövern seitens der alten Garde innerhalb der Armee vorgebaut.

Am 17. September 2008 sollte Eruygur im Gefängnis über eine Treppe stürzen und ins Universitätskrankenhaus von Kocaeli überstellt werden. Seither soll er unter Amnesie leiden.

Nach der Öffnung mehrerer Brunnen im Gebiet der südosttürkischen Stadt Şırnak werden tatsächlich Knochen und andere menschliche Überreste gefunden. Auch wenn die Toten nicht mehr in allen Fällen identifiziert werden können, werden auf diese Weise jene Angaben bestätigt, die der schillernde Zeuge Güney in seinen Aussagen gegenüber den Ermittlungsbehörden gemacht hatte.

20. Juli 2009: Das Verfahren zur 2. Anklage mit 56 Angeklagten beginnt. Das Gericht beschließt, es mit dem Verfahren zur 3. Anklageschrift mit 52 Verdächtigen (37 davon in U-Haft) zu verbinden und der 13. Großen Kammer für schwere Straftaten in Istanbul zu übergeben.

Noch weitere Verbrechen waren geplant

Was wollte das Netzwerk, das sich im Inneren des Staates gebildet hatte, aber eigentlich erreichen?

Akutes Ziel der mutmaßlichen Mitglieder von Ergenekon, für die die Unschuldsvermutung gilt, war nach dem Ergebnis der umfangreichen Ermittlungen ein Sturz der AKP-Regierung. Strategisches Planziel war aber, die Demokratisierung der Türkei, die seit 2002 und seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der EU in die Gänge gekommen war, rückgängig zu machen, die politische Macht und die mediale Deutungshoheit wieder an die alten Eliten zurückzugeben und deren Politik der Bevormundung und Gängelung der religiösen, ländlichen Bevölkerungsmehrheit sowie der Zwangsassimilation von ethnischen und religiösen Minderheiten wiederherzustellen. Außenpolitisch wollte man sich von den USA und Europa abwenden und möglicherweise ein Bündnis mit Russland anstreben.

Aufgrund der bei Angeklagten sichergestellten CDs und Lagepläne kommt die Anklageschrift zum Schluss, dass die Bande Attentate auf Ministerpräsident Erdoğan von der Regierungspartei AKP, den Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, mehrere kurdische Politiker, den ökumenischen Patriarchen Bartholomäus und den armenischen Patriarchen Mesrob geplant habe. Auch der einflussreiche jüdische Unternehmer Ishak Alaton und der Kolumnist Fehmi Koru sollen neben vielen anderen als Anschlagsziel ausgemacht worden sein.

Was den inneren Aufbau anbelangt, soll Veli Küçük, wie Rainer Hermann in der FAZ anlässlich des Prozessbeginns darlegte, als militärischer Arm für die Abwicklung der Attentate und die Verbindung zu Mitgliedern der Armee zuständig gewesen sein, eine zweite Person koordinierte die Kontakte zu staatlichen Institutionen, eine dritte die zur Zivilgesellschaft. Andere unterhielten Kontakte mit der Mafia und zu Terrorgruppen. Der Vorsitzende der „Arbeiterpartei“, Doğu Perinçek, soll sich beispielsweise wiederholt mit dem PKK-Gründer Öcalan getroffen haben und der Verbindungsmann der Bande zur PKK gewesen sein. Kontakte bestanden auch zur linksextremen Stadtguerilla DHKP/C und zur türkischen Hizbullah. „Ergenekon“ finanzierte sich unter anderem über mafiaähnliche Geschäfte und den Drogenhandel, für den die zum Teil erfolgreiche unterwanderte PKK bereits eine taugliche Infrastruktur geschaffen hatte.

Ilhan Selçuk, Chefredakteur der stramm kemalistischen Tageszeitung „Cumhuriyet“, war mutmaßlich der ideologische Kopf der Bande. Er war schon 1971 an einem gescheiterten Putschversuch beteiligt gewesen, der die Türkei aus dem Westen herauslösen und aus dem Land einen unabhängigen Drittweltstaat machen wollte – zu einer Zeit, als innerhalb der UNO die „Blockfreien“ (denen unter anderem Jugoslawien und Indien angehörten) immer mehr an Bedeutung gewannen. Als sein Vertreter bei „Ergenekon“ gilt der frühere Rektor der Universität Istanbul, Alemdaroğlu. Der ehemalige Maoistenführer Perinçek verwirklichte Ideen der beiden Vordenker organisatorisch. Im Falle einer Verurteilung muss der innere Kreis der Angeklagten mit jeweils mehrfachen lebenslangen Haftstrafen rechnen.

Der Vorsitzende der Handelskammer Ankara, Sinan Aygün, rief bei seiner Verhaftung im Frühjahr aus, er werde nur seiner Liebe zu Atatürk wegen verhaftet. Er sollte Regierungschef der „Ergenekon“-Junta werden.

In kemalistischen Kreisen besteht heute noch durchaus Sympathie für die Bande, der zugetraut wurde, die AKP zu entmachten und zu stürzen.

Die europäischen Medien nehmen – sofern sie nicht ohnehin eine grundsätzlich gegen die AKP gerichtete Tendenz aufweisen oder das Thema weitgehend verschweigen – vor allem daran Anstoß, dass auch Journalisten wie Tuncay Özkan in Haft gehalten werden: Tatsächlich wurden jedoch auch Waffen in dessen Wohnung gefunden. 2012 sollte der EGMR die Verhaftungen im Zusammenhang mit den Ergenekon-Ermittlungen jedenfalls als rechtens judizieren.

Özkan hatte immerhin nicht nur durch seine Gefälligkeitsartikel Befehle der Gruppenspitze ausgeführt, sondern auch Putschhandlungen gerechtfertigt und durch seine Berichterstattung politische Gegner strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt – beispielsweise den umstrittenen Prediger Adnan Oktar, der 2008 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, dessen Verurteilung aber wegen schwerer Verfahrensmängel wieder aufgehoben werden musste . Er hat durch seine nationalistische Agitation Hass geschürt und so die Bemühungen verantwortungsbewusster Kräfte um ein von Respekt, Diversität und Akzeptanz geprägtes Miteinander der Volksgruppen in der Türkei konterkarikiert. Solche Journalisten sind keine Opfer, sondern Täter.

Außerdem war für Özkan auch reale politische Macht vorgesehen. Er hätte – so ging aus den ausgewerteten Unterlagen hervor – Deniz Baykal als Vorsitzender der CHP ablösen sollen. Auch MHP-Chef Bahçeli sollte in diesem Zusammenhang entmachtet und durch einen Gefolgsmann der Ergenekon-Gruppe ersetzt werden.

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