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Politik

Ergenekon, der Westen und die anatolischen Kinder

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Die Kinder Anatoliens sind in den 80er-Jahren mit ihren bescheidenen Mitteln über die Grenzen des Landes getreten, sind mit dem Westen einen Dialog eingegangen und haben es geschafft, die verstarrten Vorurteile ins Schwanken zu bringen. (Foto: ap)

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Ergenekon, der Westen und die anatolischen Kinder
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Die Kemalisten, die in der Türkei den Mantel der nationalen Sicherheit über der Demokratie teilweise positiv sahen und die akademischen Studien, welche die Streitkräfte als Garant für die türkische Demokratie und den Säkularismus anerkannten, waren in den 1990er-Jahren am stärksten in der öffentlichen Wahrnehmung präsent. Niemand hatte mehr Hoffnungen auf eine bessere Zukunft des Landes, in dem alle zehn Jahre ein Putsch stattfand, eine Spaltung des Volkes in Links und Rechts oder Türken und Kurden gepflegt wurde und wo die demokratische Kultur nicht erblühen mochte. Die Türkei war wieder der „kranke Mann am Bosporus“, seine Krankheit war chronisch und ansteckend…

Die öffentlichkeitswirksame Staatspropaganda trug zur Hoffnungslosigkeit bei und pflegte liebgewonnene Feindbilder. Einige dieser Propagandasätze lauteten „Die Türkei gehört zu den wenigen sich selbst genügenden, souveränen Ländern”; „Nur der Türke ist des Türken Freund” und „Unser Land ist von drei Seiten von Meeren und von allen Seiten von Feinden umgeben”. Solche oder ähnliche Aussagen gehörten zu der ideologischen Indoktrination im Bildungssystem.

Der wichtigste Schritt, den die Türkei während der Regierungszeit Turgut Özals (1983-89) zum Wohle der Demokratie gemacht hatte, war die Popularisierung des Grundsatzes, sich selbst und den Horizont der Gesellschaft „über die Grenze hinaus zu erweitern“. Der verstorbene Turgut Özal hatte, während er türkischen Geschäftsleuten sein Privatflugzeug zur Verfügung stellte und ihnen damit verhalf, in verschiedenen Regionen der Welt Fuß zu fassen, ungeachtet des knappen Budgets vielerlei Stipendien organisiert und die besten türkischen Studenten zum Master-und Doktorstudium in die USA und nach Europa geschickt, damit sie, wenn sie zurückkehren, ihren Beitrag im Staatswesen für eine demokratische Türkei leisten können.

Wie Özal die Saat der Demokratisierung säte

Die Kinder Anatoliens sind in den 80er-Jahren mit ihren bescheidenen Mitteln zum ersten Mal in der Geschichte der Republik über die Grenzen des Landes getreten, sind einen Dialog mit dem Westen eingegangen und haben es geschafft, die erstarrten Vorurteile ins Schwanken zu bringen. Die sozialen Codes der Ergenekon-Strukturen, die versuchten, die sich öffnende, globale Grenzen mit ihrer dynamischen Wirtschaft überschreitende Türkei in den Netzen ihrer inneren Konflikte gefangen zu halten, um so diese Horizonterweiterung zu beenden, wurden entschlüsselt.

Wäre es der Türkei nicht gelungen, eine innere Erneuerung in Bürokratie, Medien und Justiz zu verwirklichen, hätte sie die Bedrohung durch die Ergenekon-Organisation, die wie ein Krake das Land gefangen hielt, nicht erkennen können. Als die tiefe Strukturen von Ergenekon ans Tageslicht kamen, haben die westlichen Medien den Prozess der Enthüllung richtigerweise als einen Teil der überfälligen Demokratisierung des Landes gesehen und auch so wiedergegeben.

Doch nachdem mehrere Festnahmewellen folgten und Namen, die den westlichen Medien vielleicht persönlich vertraut waren, mit ins Spiel kamen, wurde der Ergenekon-Prozess zunehmend misstrauisch beäugt. Die Türkei konnte der Welt den Prozess mit den Instrumenten der öffentlichen Diplomatie nicht so gut erklären wie die Ergenekon-Front mithilfe ihrer alten Medienseilschaften. Oder um noch einen Schritt weiterzugehen: Die türkischen Demokraten konnten den Ergenekon-Prozess selbst ihrem eigenen Volk nicht so gut erklären wie die Ergenekon-Anhänger selbst.

Die Spekulationen in der westlichen Welt, die seit den Gezi-Park-Ereignissen immer häufiger die Frage stellt, was denn in der Türkei los ist, schossen ins Kraut. „Wird die Opposition mittels der Justiz zum Schweigen gebracht?“, wollten manche Analysten wissen. Eine der wenigen kritischen Fragen auf die Nachrichten, die sonst sogar gerne die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der die Strafverfolgung bereits in vielen Fällen als unbedenklich betrachtet hatte, kam von Gunnar Köhne vom SWR-Radio. Er fragte: „Wenn es keine tiefe Struktur namens Ergenekon gibt, wer hat dann diese Morde in der Vergangenheit begangen und warum haben die Morde aufgehört, nachdem das Gerichtsverfahren begonnen hatte?“

Today’s Zaman und ihr Beitrag zur Schaffung einer Gegenöffentlichkeit

Die wichtigste Gruppe, der es gelungen ist, die Unterstützung des westlichen Medienmainstreams gegenüber der nationalistischen, antiwestlichen und antiamerikanischen Ergenekon-Struktur teilweise auszugleichen, ist die Hizmet-Bewegung. Sie hat mit ihrer Medienarbeit unzählige Menschen erreicht, die ansonsten nur die einseitige Darstellung der etablierten Medien kannten. Today’s Zaman wurde in dieser Hinsicht zum erfolgreichsten und aktivsten Medium.

In schweren Stunden wie jenen des Putschmemorandums vom 27. April 2007 sind zunächst einmal der Chefredakteur der Zeitung selbst und zahlreiche säkulare, mit der Hizmet-Bewegung noch nicht einmal in Verbindung stehende Autoren der Zeitung von Land zu Land gereist, um zu erklären, dass die AKP keine islamistische Bewegung ist und der in der Türkei auftretende Kampf sich nicht zurück in den autoritären Säkularismus, sondern eher in Richtung Freiheit und Demokratie entwickeln werde.

Autoreninfo: Dr. Genç hat Politikwissenschaften in Heidelberg studiert und lehrt heute an der privaten Fatih-Universität in Istanbul Internationale Beziehungen. Er schreibt zusätzlich in der wöchentlich erscheinenden und auflagenstärksten Politzeitschrift „Aksiyon“.


Dieser Artikel erschien erstmals am 19. August 2013 bei DTJ und wurde nun wegen der erneuten Aktualität des Ergenkon-Prozesses als Hintergrundtext zum zweiten mal veröffentlicht.