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Politik

Ergenekon-Aufarbeitung ist erst der Anfang für eine demokratische Türkei

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Die ersten Gerichtsurteile im Ergenekon-Verfahren werden in diesem Jahr erwartet. Bereits jetzt kann man jedoch sagen, dass von dem Urteil klare Signale für eine freiheitliche und demokratische Zukunft der Türkei ausgehen werden. (Foto: zaman)

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Ergenekon-Aufarbeitung ist erst der Anfang für eine demokratische Türkei
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Teil 4 – Das Ergenekon-Verfahren

Das Ergenekon-Verfahren gehört zu den umfangreichsten Prozessen der türkischen Geschichte. Insgesamt stehen 275 Angeklagte vor Gericht, davon befinden sich 67 in Untersuchungshaft. Die Anklageschrift umfasst 120 Millionen Seiten und ist eine Zusammenfassung von 21 Fällen. Bis auf ein Verfahren in Erzurum finden alle Verfahren vor der Großen Kammer für schwere Straftaten in Istanbul statt. Die großen Prozesse finden in einem Gerichtssaal im Gefängnis Silivri statt. Um allen Beteiligten und dem Publikum genügend Platz zu bieten, wurde eine Sporthalle zu einem Gerichtssaal umfunktioniert.

Der Prozess führte im Juli 2011 auch zum Rücktritt der Armeeführung in drei der vier Waffengattungen des türkischen Militärs.

Warum die Existenz Ergenekons keine „Legende“ ist

Aus den betroffenen Kreisen der Kemalisten, aber auch aus westlichen Medien, die über Jahrzehnte hinweg den Narrativ von den türkischen Generälen als Lichtgestalten gepflegt hatten, die das Land im Interesse von Freiheit und Demokratie vor der islamischen Gefahr schützen würden, kommt, sofern über das Thema überhaupt berichtet wird, regelmäßig der Einwand die AKP hätte sich eine Verschwörungstheorie gesponnen und Ergenekon „erfunden“, um sich die eigene Macht zu sichern.

Dabei ist es nicht schwierig, zu erklären, warum „Ergenekon“ eben keine Verschwörungstheorie ist:

– Es gibt zu jeder Anklage greifbare Spuren, authentische Waffenfunde, die sich eindeutig bestimmten Produktionsserien zuordnen ließen und auf diesem Wege auch zu konkreten Personen führten, die sie erwarben und besaßen, es wurden Datenträger sichergestellt, Telefongespräche aufgezeichnet, sogar Gesprächsnotizen angefertigt. Die Presseberichte und Fernsehsendungen, in denen nach dem Militärputsch gerufen wurde, die Hetzkampagnen gegen missliebige Personen und Bevölkerungsgruppen (beispielsweise so, wie Ilker Cinar sie beschrieb), die Übereinstimmung zwischen dem Ablauf von Handlungen und dem den Aussagen von Zeugen: All das konnte so stimmig in einen Sinnzusammenhang gebracht werden, dass eine Anklage als plausibel und erfolgversprechend erschien (zumal die Anklagebehörde damit auch das Risiko eines möglichen Freispruches eingeht, der am Ende auf die Regierung zurückfallen würde).

– Es ist aus der Zeitgeschichte bekannt, dass tatsächlich in der Türkei mehrfach geputscht wurde, Staatsstreiche angedroht wurden, die Bevölkerung wusste über Jahrzehnte hinweg, dass es so etwas wie einen „tiefen Staat“ gibt und dass die Armee eine Art oberste Schattenregierung darstellt, die jederzeit bereit war, notfalls auch Mehrheitsentscheidungen außer Kraft zu setzen. Unbekannt waren nur die exakten Strukturen und das Ausmaß der Durchdringung gesellschaftlicher Handlungsabläufe durch die entsprechenden Netzwerke.

– Die Tötung von Oppositionellen und Angehöriger ethnischer Minderheiten, das „Verschwinden lassen“ im großen Stil und die Bombenanschläge und Übergriffe, die zu oft gerade zum „richtigen“ Zeitpunkt stattfanden, waren keine spontanen und isolierten Einzelaktionen auf sich alleine gestellter Fanatiker, sie lassen in aller Regel ein organisiertes Vorgehen im Vorfeld und auch in der „Nachbereitung“ erkennen.

Das Ergenekon-Verfahren wird – im Gegensatz zur Darstellung in manchen Medien – mit sehr viel Augenmaß geführt. Im März 2011 wird der mit Sonderbefugnissen ausgestattete Staatsanwalt Zekeriya Öz, dem Kritiker stets einen Hang zum Übereifer vorgeworfen hatten, in die Stellvertretung des Oberstaatsanwalts in Istanbul befördert und damit von den Ermittlungen abgezogen. An seine Stelle tritt Turan Çolakkadı. Noch schlimmer sollte es dem Oberstaatsanwalt İlhan Cihaner ergehen, der im Zuge der Untersuchungen, nachdem er diese lange mit überdurchschnittlichem Engagement vorangetrieben hat, selbst in Verdacht gerät, Mitwisser zu sein. Mittlerweile sitzt er als gewählter CHP-Abgeordneter in der Großen Nationalversammlung.

Die Urteile stehen noch aus. Niemand kann auch voraussagen, in wie vielen Fällen die Beweisergebnisse tatsächlich für eine Verurteilung ausreichen werden.

Zeit der „Schattenregierungen“ abgelaufen

Dass der „Ergenekon“-Prozess nicht vergeblich gewesen sein wird, lässt sich heute schon sagen. Er ist ein wichtiges Signal der Demokratisierung und in diesem Sinne gerade das, was den Vereinbarungen mit der EU im Zusammenhang mit dem Beitrittsprozess bestmöglich gerecht wird. Die Militärs mussten in einem schmerzlichen Erfahrungsprozess begreifen, dass es in einer Demokratie keine „Schattenregierung“ geben darf, die Mehrheitsentscheidungen nach Belieben für Null und Nichtig erklärt, wenn diese ihr nicht ins Konzept passen.

Medienunternehmen wurde deutlich gemacht, dass journalistische Standards kein Luxus sind, sondern Teil ihrer Verantwortung, die mit ihrer Macht Hand in Hand geht. Dass sich Medien wie in totalitären Regimen bereitwillig zum verlängerten Arm des Generalstabs machen ließen und auf diese Weise das Konzept einer von nicht gewählten staatlichen Organen gesteuerten Presse umsetzten, kann in einer freiheitlichen Gesellschaft nur als Schande bezeichnet werden.

Der Ergenekon-Prozess zeigt auch auf, dass ein etatistisch-laizistisches Demokratiekonzept, wie es die Türkei nach dem Vorbild vieler vor allem europäischer Staaten des 19. und 20.Jahrhunderts adaptiert hatte, kein Zukunftsmodell ist, weil es an seiner inneren Widersprüchlichkeit scheitert. Ein Staat ist entweder der Freiheit verpflichtet – und respektiert das Recht seiner Bürger, auch aus Sicht der herrschenden Eliten „falsche“ Entscheidungen zu treffen (zB in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen) – oder er betrachtet Demokratie als Tyrannei der Mehrheit und den Staat als berufen, Bürgern notfalls das aus seiner Sicht „richtige Bewusstsein“ aufzuzwingen. Dann ist es aber auch kein freiheitlicher Staat mehr, sondern ein bevormundender und elitistischer.

Sollte auch das Ergenekon-Verfahren die Wahrheit über die vielen ungeklärten Morde und Vorfälle ans Licht bringen, die über so lange Zeit hinweg so viele Opfer in der gesamten Türkei hinterlassen hatten, wäre zumindest ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung jenes Unrechts getan, das begangen wurde, um die Privilegien einer Elite zu sichern, die jede Bodenhaftung verloren hatte.

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