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Politik

Erst die PKK, dann die Aleviten – auf die Türkei wartet noch viel Arbeit

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Die Türkei befindet sich heute an einer entscheidenden Wegmarke. Wählt sie jetzt den richtigen Weg, gibt es keinen Zweifel daran, dass sie von einer großen Last, die sie seit 30 Jahren mit sich umherschleppt, befreit wird. (Foto: cihan)

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Erst die PKK, dann die Aleviten - auf die Türkei wartet noch viel Arbeit
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Es gibt im Land Kräfte, denen die Aussicht auf eine Lösung des Kurdenkonflikts Kopfzerbrechen bereitet. Es sind im Wesentlichen die gleichen, welchen die Aussichten auf Frieden und Normalität im Lande als Bedrohung erscheinen. Auch und gerade deshalb würde es Sinn machen, bei der Gelegenheit gleich eine zweite drängende Debatte zu führen – nämlich jene um die Stellung der Aleviten.

In jenen Tagen, als die Öffnungspolitik gegenüber den Aleviten begonnen hatte, war ich mir sicher: Das Alevitenproblem zu lösen wird noch schwieriger als das Kurdenproblem. Ich bin immer noch dieser Überzeugung. Und ich bin mir sicher, dass der Ministerpräsident, dem es bereits im Zusammenhang mit der Kurdendebatte gelungen ist, alle gängigen Vorurteile in Frage zu stellen, auch mutig genug sein wird, um im Zusammenhang mit der Alevitenproblematik mutige Schritte zu unternehmen und Ressentiments die Grundlage zu entziehen. Denn die Lösung des Alevitenproblems ist ebenso wichtig wie die Kurdendebatte.

Die Tatsache, dass Letztere mit Terror und damit vielen Menschenopfern verbunden ist, hatte ihr zwar eine höhere Dringlichkeit verliehen – unterstreicht aber gerade dadurch auch, wie wichtig es ist, die Alevitendebatte nicht aus den Augen zu verlieren.

CHP-Politiker und Alevitenvertreter wechseln zur AKP

Dass es positive Entwicklungen im Verhältnis zwischen der Regierung und den Aleviten gibt, lässt sich nicht leugnen. Wie das Blog „Turkishpress“ berichtet, ist kürzlich Sinan Yerlikaya, der ehemalige Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei aus dem Stimmkreis Tunceli, einer Alevitenhochburg, zusammen mit mehreren Vertretern alevitischer Organisationen zur amtierenden Regierungspartei AKP übergewechselt. Mit Yerlikaya wechselten auch mehrere Vertreter alevitischer Organisationen die Partei.

„Mit Freunden aus Ovacık, Pertek, Nazimiye und Pülümer stehen wir ihnen zur Seite“, zitiert „Turkishpress“ den Politiker. „Um der Lösung der Probleme Willen stehen wir dem Ministerpräsidenten zur Seite. Wir wollen dabei mithelfen, eine zivilisierte Gesellschaft aufzubauen. Über die Rassismusbekämpfung hinaus wollen wir an seiner Seite stehen und weil wir daran glauben, dass die Verleugnungspolitik damit ein Ende finden wird“, erklärte Sinan Yerlikaya nach seinem offiziellen Parteiwechsel während der anberaumten Fraktionssitzung in Ankara. Mit Yerlikaya wechselten u.a. der Bürgermeister der Stadt Yalova, Yakup Koçal, sowie drei weitere Kreisparteivorsitzende der CHP zur AKP über. Den derzeitigen CHP-Abgeordneten der Region wirft man Untätigkeit im Zusammenhang mit den Interessen der Aleviten vor.

Die Forderungen der Aleviten wären in einem normalen, demokratischen Land längst erfüllt und die offenen Fragen gelöst worden. Aber die Türkei scheint von der Lösung des Problems weit entfernt zu sein, und das liegt nicht zuletzt an den Versäumnissen der kemalistischen Ära, als man den sunnitischen Sufismus und das Alevitentum im Interesse einer Uniformisierungs- und Assimilationspolitik über die Klinge springen ließ. Heute ist sich kaum noch jemand dessen bewusst, welche Verwerfungen das Verbot von mystischen Schulen erzeugt hat. Dass die mystische Tradition in den Untergrund gedrängt wurde, hatte ein weitgehendes Vergessen der alevitisch geformten, sunnitischen Sufi-Tradition zur Folge – welche schon seit Jahrhunderten diese Gebiete beherrschte – und außerdem zur Verschleierung des ideellen Kausalzusammenhangs zwischen Aleviten und Sunniten. Die Stelle eines mit Sufismus vermischten Islam wurde von einem trockenen, staatlich gegängelten Sunnitentum eingenommen.

Negative Einflüsse und Entfremdungsprozesse

Als der Islamgedanke begann, eine Renaissance zu erleben, waren die innertürkischen Anknüpfungspunkte und Traditionen – welche eine passende Form der Pflege ermöglichen hätten können – zerstört und man war gezwungen, diese gleichsam zu importieren. Der Mainstream-Islam in Kolonialländern wie Pakistan, Ägypten, Arabien und andere Länder – welche ästhetisch und inhaltlich auf gar keine Weise ein gutes Beispiel darstellen konnten – wurden dem Islam in der Türkei zum Vorbild. Das Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Westen – welches uns bis ins Mark gedrungen ist – war auch für unseren Islamismus maßgebend geworden. Während wir einst alles, was aus dem Westen kam, schlecht machten, haben wir heute vergessen, dass die Quelle vieler positiver Dinge, die vom Westen kommen, die islamische Kultur ist und haben doch die schlimmsten Aspekte des Westens übernommen – und damit den Islam bewusst oder unbewusst mit der Krankheit des Nationalismus kontaminiert.

Während der wieder aufstrebende Islamismus versuchte, den Staat zu domestizieren und sich mit ihm auszusöhnen, hat er – weil er die Einheit aus der Vergangenheit vergessen hat – sich beim Thema Alevitentum mit dem Staat verbündet und die Aleviten ausgegrenzt; man hat den Fall ähnlich wie im Zusammenhang mit der dort herrschenden Schiiten-Sunniten-Auseinandersetzung in den Kolonialstaaten betrachtet. Auf der anderen Seite jedoch haben sich die Aleviten und das Alevitentum – je mehr sie ausgegrenzt wurden – zunehmend vom Islam entfernt; man hat mit Zunahme der Urbanisierung und des Bildungsniveaus lange den linken und marxistischen Kräften angenähert, um so dem konservativ-nationalistischen Gedankengut die Stirn zu bieten. Ab den 80er-Jahren wurde man jedoch kemalistisch.

Während die Vergangenheit der islamistischen Bewegungen in der Türkei sich bis in die 50er-Jahre zurückverfolgen lässt, hatte sich die Alevitenbewegung aufgrund äußerer Umstände erst ab den 80er-Jahren zu zeigen begonnen. Und bei diesem ‚Sich bemerkbar machen‘ haben auch eher äußere als innere Umstände eine Rolle gespielt. Der tiefe(?) Staat hat direkt das Alevitentum für den Einsatz gegen den Islamismus instrumentalisiert und wollte es auf diese Weise zu einer Partei in der Konfrontation zwischen Säkularen und Antisäkulären machen, welches ihm in der letzten Konsequenz auch gelungen ist.
Es wurde versucht, das Alevitentum – statt als eine theologische – eher als eine moderne ideologische Haltung darzustellen, welche wiederum auch von vielen Aleviten angenommen wurde.

Bevor ich noch mehr die Vergangenheit analysiere, habe ich zum Thema, warum das Alevitenproblem gelöst werden muss, einige Anmerkungen. Die erste bezieht sich darauf, dass mittlerweile erkannt wird, dass der unnötige Widerstand gegenüber den Forderungen der Aleviten das traditionelle Alevitentum schwächt. Da die Diskussionen über die Cemevleri (Singular: Cemevi – alevitisches Versammlungs- und Gotteshaus) auf eine entwürdigende Art und Weise geführt werden, sind jedoch die Tage, an denen sich die Aleviten mit dem Islam und den Sunniten versöhnen werden, in eine ferne Zukunft verschoben worden.

Die zweite Anmerkung betrifft die Tatsache, dass das Alevitentum zur Instrumentalisierung durch die Strukturen des tiefen Staates grundsätzlich geeignet ist. Man kann ihn als Ergenekon oder auch mit einem sonstigen, beliebigen Namen bezeichnen: Die Aleviten befinden sich im passenden kollektivpsychischen Trauma, das es erlaubt, sich ihrer zu bedienen. Man möchte sie als einen Teil des Widerstandes gegen die AKP benutzen und unter den Aleviten ist ein großer Teil vorhanden, welcher durchaus bereit ist, sich auf diese Weise instrumentalisieren zu lassen. Die dritte Anmerkung betrifft etwas, dessen wir uns noch nicht ausreichend bewusst sind – nämlich, dass die gegenwärtig gesellschaftlich marginalisierten Gruppen wie etwa die DHKP/C nicht selten über gebildete, aber hoffnungslose alevitische Jugendliche reorganisiert werden.

Inmitten der Wirtschaftsprobleme

Diese Entwicklungen könnten sich noch verstärken, jedoch ist es ganz offensichtlich, wie gefährlich vor allem letztere beide auch schon kurzfristig sein können. Psychologisch gesehen sind die Aleviten mental zurzeit sehr traumatisiert und leider macht diese mentale Situation die Menschen für den Missbrauch sehr anfällig. Neben den psychologisch erklärbaren Problemen vertiefen auch die wirtschaftlichen Probleme die Problematik noch weiter. In der immer reicher werdenden Türkei verarmen die Aleviten immer mehr. Diese Verarmung wird seitens der alevitischen Jugendlichen auf ihre alevitische Identität zurückgeführt und sie gehen davon aus, dass ihnen die Türen seitens des Staates mit Absicht vor der Nase zugeschlagen worden wären.

Im Richteramt, bei den Staatsanwälten und in anderen Branchen, wo auf Grund von Vorstellungsgesprächen Beamte bestellt werden, ist in den letzten zehn Jahren die Zahl der Namen alevitischer Herkunft auffällig zurückgegangen – welches die Wahrnehmung in dieser Hinsicht stärkt. Hinzu kommt noch, dass unter der Führung Kılıçdaroğlus auch in den CHP-Kommunen Hindernisse aufgebaut werden und auf Kritik mit der Ausrede „Der Vizepräsident ist einer von euch, was wollt ihr denn noch?“ reagiert wird – was in Summe die Aleviten in eine tatsächlich schwierige Lage bringt.

Vor allem der wirtschaftliche Abschwung innerhalb der Community eröffnet wirklich sehr gefährliche Perspektiven. Jugendliche, die sich in einer psychischen Lage befinden, in der sie sich schikaniert fühlen, können, wenn sie diese Situation religiös oder ersatzreligiös aufladen, schnell in die Falle einer „Kultur der Selbstaufopferung“ abrutschen. Was diese psychische Lage bedeutet, können diejenigen, welche in ihrer Vergangenheit auf irgendeine Weise mit linken Organisationen in Verbindung gekommen sind, vermuten, dessen bin ich mir bewusst und möchte daher die Zuständigen warnen. Die Gefahr, dass die alevitischen Jugendlichen langfristig gesehen ein gegenüber dem heutigen noch gefährlicheres Terrorproblem verursachen und seitens der marginalisierten linksextremen Organisationen ausgenutzt werden können, darf nicht verharmlost werden.

Bereits heute ist zu erkennen, dass innerhalb der PKK die am stärksten marginalisierten und gewalttätigen Gruppen alevitische Wurzeln haben. Aus diesem Grund ist es wichtig, zu verhindern, dass Aleviten als Unterauftragnehmer verschiedener Organisationen in die Gewaltspirale hineingezogen werden. Die alevitischen Jugendlichen verdienen es genauso wie die sunnitischen Jugendlichen, hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können. Aus diesem Grund dürfen die frommen sunnitischen Kreise – die ja noch aus jüngster Vergangenheit, etwa vom 28.Februar her, die psychischen Traumata der Unterdrückung selbst und höchstpersönlich kennen – nicht dulden, dass die Grausamkeit, die sie selbst erlebt hatten, nun den alevitischen Jugendlichen zuteilwird. Die große Verantwortung für die Zukunft des Landes und für Ruhe und Frieden liegt in den Händen derer, die tatsächlich die Möglichkeit haben, jetzt gegensteuern.

Autoreninfo: Şenol Kaluç ist Direktor des Alevii-Bektaşi Forschungszentrums.