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Geschichte

„Von einer ‚gleichberechtigten‘ Behandlung der Türkei im Zeitalter des Imperialismus konnte keine Rede sein“

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Auch hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg bleiben viele Fragen aktuell und unbeantwortet. Ein wichtiger Teilaspekt des Kriegs war die Zusammenarbeit zwischen den Deutschen und de Osmanen. Ein Gespräch mit dem Historiker Klaus Kreiser. (Foto: cihan)

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Auch hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg bleiben viele Fragen aktuell und unbeantwortet. Hätte der Weltkrieg nicht verhindert werden können? Haben wir wirklich die nötigen Lehren aus der ersten Menschheitskatastrophe des 20. Jahrhunderts gezogen? Wenn man in die Ukraine und in den Nahen Osten blickt, scheint es nicht so zu sein.

Ein anderer und wenig erforschter Aspekt des Weltkrieges ist die Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen und Osmanischen Reich. Fast bei jedem offiziellem Anlass, bei dem sich Türken und Deutsche begegnen, kommt die „deutsch-türkische Freundschaft“ und die „Waffenbrüderschaft“ während des Ersten Weltkrieges zur Sprache. Was daran ist wahr und was ist Kriegspropaganda? Aus Sicht des Historikers und Atatürk-Biographen Klaus Kreiser hat es während des Ersten Weltkrieges zahllose Kontroversen zwischen Deutschen und Türken gegeben, die an der Front gemeinsam gekämpft haben. Jedoch sei die deutsch-türkische Freundschaft „keine leere Formel“ gewesen. Das Deutsche Reich wollte die Zusammenarbeit mit den Osmanen und hat letztendlich den Krieg finanziert und die Richtung vorgegeben.

Im Ersten Weltkrieg waren das Deutsche Reich und das Osmanische Reich Verbündete. Seitdem ist viel die Rede von der deutsch-türkischen Freundschaft. Gibt es sie oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um eine politische Zweckpropaganda aus der Kriegszeit?

Die deutsche Gesellschaft zerfiel vor 1914 in zwei Hälften: Es gab Gegner der nach-hamidischen Türkei und eine starke pro-türkische Fraktion unter den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten. Nach Kriegsausbruch wurden auch viele Türkei-Skeptiker zu – mehr oder weniger – aufrichtigen Freunden. Ernst Jäckh, einer der Architekten der deutsch-türkischen Zusammenarbeit, schrieb ein sehr erfolgreiches Buch „Der aufsteigende Halbmond“ – als indirekte Antwort auf ein 1909 erschienenes Werk „Der erlöschende Halbmond“.

Im Großen und Ganzen haben die Deutschen verstanden, dass der Nationalismus der Jungtürken keine wirtschaftliche Ausbeutung einer „Halbkolonie“ erlaubt. Und es hat auch viele Menschen auf der türkischen Seite gegeben, die Deutschland gegenüber sehr kritisch eingestellt waren. Für Mustafa Kemal Atatürk war der „Pangermanismus“ nicht weniger bedrohlich als der „Panslawismus“.

Auf türkischer Seite gab es nur wenige Deutschland-„Experten“. Eine solche Ausnahme war Ahmed Emin Yalman. Der prominente Journalist, hatte die deutsche Schule in Beyoǧlu absolviert und als Kriegsberichterstatter in Deutschland gearbeitet. Er machte sich keine Illusionen über die wirtschaftlichen Interessen der Deutschen in der Türkei. Aber er setzte sich für Deutsch als Schul- und Wissenschaftssprache ein.

Von der deutsch-türkischen Freundschaft wird viel mehr in der Türkei gesprochen als in Deutschland. Ist es ein türkischer Mythos, der in Deutschland keine Entsprechung hat?

Das Interesse der Deutschen an allem Türkischen erreichte in den Weltkriegsjahren unglaubliche Dimensionen. Die Verlage kamen kaum nach mit dem Drucken von Lehrbüchern des Türkischen. Für Übersetzungen aus der türkischen Literatur gilt vergleichbares. Überall schossen Zweigstellen der Deutsch-Türkischen Vereinigung aus dem Boden.

Allerdings hatte die kemalistische Türkei in Deutschland rasch ein wesentlich höheres Prestige erworben als das späte osmanische Reich. Dazu trug der 1919 gegründete „Bund der Asienkämpfer“ bei. Dieser Veteranenverband hatte mehrere Tausend Mitglieder, die in Palästina, Mesopotamien und Anatolien gekämpft hatten. Sie pflegten nicht nur Erinnerungen an die Waffenbrüderschaft, sondern hielten auch in zahlreichen Ortsvereinen Kontakt zur türkischen Kolonien, einschließlich der jungtürkischen Politiker im deutschen Exil. Viele Deutsche bewunderten die „Neue Türkei“ unter Kemal Paṣa, weil er die Nachkriegsverträge von Sèvres zerrissen hatte, während Deutschland unter dem „Diktat“ von Versailles stöhnte.

Als 1958 das Kulturabkommen mit der Bundesrepublik in der TBMM (Türkisches Parlament) eingebracht wurde, sprach der Abgeordnete Mustafa Reṣit Tarakçıoǧlu von einer Schicksalsgemeinschaft. Er ging noch weiter und sagte: „Der türkische Dorfbewohner liebt das deutsche Volk und bewundert dessen Fleiß und Heldentum.“

Die deutsch-türkische Freundschaft war keine leere Formel, auch wenn die Namen von Moltke und Goltz inflationär verwendet wurden. Die „Waffenbrüderschaft“ des Weltkriegs war nicht völlig harmonisch, es gab zahllose Kontroversen zwischen deutschen Instrukteuren und türkischen Offizieren.

Ist das Feld ausreichend erforscht?

Nein. Hier gibt es noch ein weites Forschungsfeld. ATASE, das Militärarchiv in Ankara, birgt noch eine Menge ungelesener Dokumente in deutscher Sprache. Aber auch die Mehrzahl längst gedruckter Erinnerungen deutscher Kriegsteilnehmer wartet noch auf ihre Übersetzung ins Türkische.

Der Historiker İlber Ortaylı behauptet in seinem Buch „Der deutsche Einfluss auf die Osmanen“, die Deutschen hätten vielmehr Pläne gehegt, Anatolien zu kolonialisieren…

Ortaylıs Buch wurde vor Jahrzehnten (1981) publiziert und stellte damals einen wichtigen Forschungsbeitrag dar. Erstmalig hatte ein türkischer Historiker eine Anzahl osmanischer, deutscher und britischer Dokumente zur Epoche von Abdülhamid II. bzw. Wilhelm II. und eine ungewöhnliche Fülle weiterer Quellen verwendet. Leider hatte er die wichtigste Monographie zum Thema übersehen: Wilhelm van Kampens Studien zur deutschen Türkeipolitik in der Zeit Wilhelms II. Diese Dissertation aus dem Jahr 1968 vermittelt ein ausgewogenes Bild des damaligen Türkei-Interesses. Pläne zur Kolonialisierung Anatoliens entlang der Bahnlinie nach Bagdad durch deutsche Bauern spielen in dem Buch Ortaylıs zu Recht keine größere Rolle, sie waren ja auch nie Bestandteil der Politik Berlins.

Im Rückblick erfährt man aus dem nach wie vor lesenswerten Buch ebenso viel über den Historiker Ilber Ortaylı als „zornigen jungen Mann“ wie auch über die deutsch-osmanischen Beziehungen. Der „späte Ortaylı“ ist vor allem ein umfassend gebildeter, oft amüsanter, manchmal ungerechter Autor. Sichtbar leidet er an den unzureichenden Sprachkenntnissen und der nationalistischen Nabelschau mancher türkischer Kollegen.

….und hätten die Türken nicht gut und nicht als Gleichberechtigte behandelt.

Richtig ist, dass von einer „gleichberechtigten“ Behandlung der Türkei im Zeitalter des Imperialismus keine Rede sein konnte. Auch für viele Zeitgenossen in der Türkei war der Deutsche ein Lehrmeister, oft unerträglich arrogant, aber unbestritten kenntnisreich. Die Türkei wurde als ein Importland deutscher industrieller Erzeugnisse im Austausch mit landwirtschaftlichen und Bergbauprodukten gesehen. Aber das galt noch lange bis in die dreißiger Jahre hinein, dass die Türkei auf dem Weltmarkt außer Bergbau- und Agrarprodukten nichts anzubieten hatte.

War es unausweichlich, dass sich Deutschland und die Türkei als Verbündete gefunden haben?

Der Impuls kam von Deutschland. Deutschland wollte durch die Flottenexpedition ins Schwarze Meer Russland zum Krieg mit der osmanischen Türkei veranlassen. Das ist gelungen. Aber es wäre nicht gelungen, wenn Enver Paşa die Meerengen nicht freigegeben hätte. Die Türkei hätte vielleicht so etwas wie eine bewaffnete Neutralität noch eine Zeitlang durchgehalten.

Kann man am Ende sagen, dass dieses Bündnis der Türkei genützt hat?

Russland wäre ohne die deutschen militärischen Erfolge im Osten nicht zusammengebrochen. Zu diesen Erfolgen trug die Türkei bei, weil sie Teile der russischen Armeen binden konnte. Die Türkei hätte sonst große Teile ihrer Ostprovinzen verloren, vielleicht sogar ihre Hauptstadt.

Am Ende ist vielleicht herausgekommen, was sich auch ohne den Krieg ergeben hätte: der Rückzug der Türken nach Anatolien. Das Wort von Anatolien als dem eigentlichen Kernland der Türken ist schon während der Balkan-Kriege immer wieder gefallen. Bei einem Sieg der Mittelmächte wären die verborgenen Interessengegensätze zwischen Deutschland und der Türkei sicher wieder ausgebrochen. Für die deutsch-türkische Freundschaft war die Niederlage beider Länder eher ein Glücksfall. Und nicht zu vergessen: Die Türkei musste ihre Schulden, mit denen Deutschland den osmanischen Krieg finanzierte, nie begleichen.