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Geschichte

„Selbst viele Armenier sprechen nicht von Völkermord“

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Der Historiker Prof. Dr. Klaus Kreiser spricht nicht von „Völkermord“, wenn es um die Zwangsumsiedlung der Armenier aus Anatolien im Ersten Weltkrieg geht: „Selbst viele Armenier sprechen nicht von Völkermord“. (Foto: rtr)

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Erster Weltkrieg: Der Historiker Prof. Dr. Klaus Kreiser spricht nicht von „Völkermord“, wenn es um die Zwangsumsiedlung der Armenier aus Anatolien geht: „Selbst viele Armenier sprechen nicht von Völkermord“.
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Der Historiker Klaus Kreiser vermeidet es von „Völkermord“ zu sprechen, wenn von der Zwangsumsiedlung der Armenier im Jahre 1914 aus Anatolien die Rede ist und erklärt es damit „als Deutscher vorsichtig mit dem Wort“ umzugehen. Er geht zwar von einer Mitschuld der Deutschen für die Vertreibung der Armenier aus, dass die Maßnahme jedoch von den Deutschen empfohlen worden sei, sieht er historisch als „nicht bewiesen“. Der Atatürk-Biograf sieht in dem Republiksgründer einen Glücksfall für die Türkei und sieht in dem Land am Bosporus eines der wenigen Nation-Building-Programme im Nahen Osten.

Sie schreiben, in Bezug auf die Armenier: „Der Krieg gegen Russland bot der osmanischen Führung einen willkommenen Vorwand zur Vertreibung und Vernichtung großer Teile der armenischen Bevölkerung.“ Heißt das, dass die Deportation der Armenier keine Selbstverteidigungsmaßnahme war, sondern eine geplante Aktion?

Das „Vorläufige Gesetz“ (kanun-i muvakkat) vom 27. Mai 1915 erlaubte den Militärbefehlshabern aus militärischen Notwendigkeiten einzelne oder ganze Bevölkerungsgruppen „an andere Orte“ zu deportieren und anzusiedeln. Freilich wurden schon zuvor im Osten Deportationsbefehle Talât Paşas an die Militärbefehlshaber übermittelt und durchgeführt. Es ist unbestreitbar, dass die türkische Führung nicht nur die Armenier deportierte, die in der Nähe der russischen Front lebten, sondern auch aus dem Westen des Landes unter anderem aus den Städten Eskiṣehir, Ankara und Konya. Von einer „geordneten“ Umsiedlung, wie es ein ehemaliger Präsident des Türkischen Historiker Verbandes (Türk Tarih Kurumu) verbreitete, konnte keine Rede sein. Oft wird auch vergessen, dass nicht nur Armenier, sondern auch andere christliche Gruppen vertrieben wurden. Selbst türkische Rekruten aus Van oder Bitlis, die zu ihren Einheiten gehen mussten hatten oft nicht einmal das Brot um die Kasernen ohne zu hungern zu erreichen. Wie sollten denn ganze Familien die Hungermärsche überstehen?

Ziel war also die Türkisierung Anatoliens?

Es ging nicht nur um tatsächliche und vermeintliche militärische Notwendigkeiten. Für die Nationalisten war die „ethnische Arbeitsteilung“ zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen ein Dorn im Auge. Als Talât Paşa in das von Armeniern „gesäuberte“ Ankara kam, begrüßte er, jetzt so viele Muslime in den Gewerbeberufen zu sehen, in denen sie früher nicht vertreten waren.

Manche sagen auch, die Idee der Deportation käme aus Deutschland..

Ja, davon liest man öfters. Ortaylı hat in seinem Buch deutsche Konsuln und Offiziere als „Organisatoren“ und „Antreiber“ genannt ohne Belege beizubringen. Ich weiß nicht, ob Ortaylı heute noch den Standpunkt vertritt, Tehcir (die Umsiedlung der Armenier) sei aus Gründen der militärischen Sicherheit auf Empfehlung des Deutschen Generalstabs veranlasst worden. Es ist aber richtig, dass die deutsche Seite eine erhebliche Mitschuld durch Untätigkeit trifft. Umgekehrt will ich auf eine vor kurzem (2012) in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft veröffentlichte Arbeit des früheren Diplomaten Hansjörg Eif hinweisen. Eif zeigt, wie die deutsche Botschaft in Istanbul Cemal Paşa, damals Oberkommandierender der 4. Armee in Syrien, an der Vertreibung aller Juden aus Jaffa und den zionistischen Kolonien abhielt.

Im nächsten Jahr haben wir den 100. Jahrestag der „großen Katastrophe“. Sie sprechen in diesem Zusammenhang nicht von Völkermord. Warum?

Ich gehe als Deutscher mit dem Wort „Völkermord“ vorsichtig um. Ich halte es nicht für hilfreich. Das blockiert zu viele Gespräche, und viele Armenier selbst gebrauchen es nicht. Und als Deutscher, der weiß, wie auf dem Schreibtisch wenige Kilometer von hier in einer Villa am Wannsee der Völkermord an den Juden bürokratisch geplant wurde (als er faktisch schon in Gang gesetzt war!), möchte ich das nicht mit dem Schicksal der Armenier gleichsetzen.

Wie kann die Türkei dieses Thema aufarbeiten?

Ich würde Projekte an Schulen, Museen und mit lokalen Medien fördern. Die Ortsgeschichte eignet sich für den Erwerb von Verständnis für alle Seiten. Man muss aber auch vermitteln, dass die schriftlichen Quellen nicht auf alle Fragen Antwort geben.

Sie haben auch eine Atatürk-Biographie geschrieben, das schon fünf Auflagen erreicht hat und auch ins Türkische und Niederländische übersetzt wurde. Was für ein Mensch war er?

Ich halte ihn schon für ungeheuer wichtig. Er war ein absoluter Glücksfall für das Land. Auch Konservative erkennen ihn an, wenn sie sagen: Er war zwar religionslos, aber ein großer Mann. Diese Formel konnte man ja immer wieder hören.

Was kann man aus Sicht der Geschichtswissenschaft über seine Religiosität sagen?

Ganz eindeutig sind seine französisch verfassten Briefe an Madame Corinne, die Witwe eines Kameraden. In der türkischen und deutschen Übersetzung eines dieser Briefe (aus Maydos im Juli 1915) fehlen bewusst (die Übersetzerin ins Deutsche wollte ausdrücklich nicht „provozieren“) die Stellen, die zeigen, dass er nicht den Glauben – seiner Soldaten – an das Paradies teilte.

War er Atheist?

Ich glaube ja. Er ließ die religiösen Amtsträger gewähren, weil er – welch ein Irrtum – vom allmählichen Austrocknen der islamischen Institutionen überzeugt war.

Warum?

Unter seinen Alters- und Standesgenossen war Mustafa Kemal keine Ausnahme. Viele waren vom biologischen Materialismus der Epoche geprägt.

Wird er nicht langsam von der Bildfläche verschwinden?

Das ist das Schicksal aller historischen Figuren. An den Schöpfer des zweiten deutschen Kaiserreichs, Otto von Bismarck, erinnern fast nur noch Straßennamen. Wir müssen abwarten, wie der Staat im Jubiläumsjahr 2023 mit dem Gründer der Republik umgeht.

War die Nationalstaatsbildung erfolgreich?

Ja, die Türkei ist eines der wenigen Nation-Building-Programme im Nahen Osten, die ein positives Ergebnis haben. Einem vormodernen Staat wäre die Integration von vielen Millionen Einwanderern im frühen 20. Jahrhundert sicher nicht gelungen.

Prof. Dr. Klaus Kreiser studierte in Köln und München, wo er 1972 promoviert wurde und anschließend lehrte. Von 1976 bis 1980 war er Wissenschaftlicher Referent des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul. 1983 habilitierte er sich an der Universität München. Von 1984 bis zu seiner Emeritierung 2005 war er Professor für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur an der Universität Bamberg.